Wie wir es schaffen, uns zu verändern, und trotzdem dieselben zu bleiben
Philosophisches Café „Lust am Denken“ am 4.4.2015 im Heimathafen (Wiesbaden)
Referat von Christian Rabanus
Identität als logische Relation
Worüber sprechen wir, wenn wir über „Identität“ sprechen? Schauen wir auf den alltäglichen Sprachgebrauch, so findet sich da die Verwendung des Adjektivs „identisch“, bzw. des Substantivs „Identität“ im Sinne einer logischen Relation: Wir reden von der Identität von Gegenständen (z.B. „Ich habe dasselbe Auto wie Du.“), von Aufgaben (z.B. „Ich hatte die gleiche Prüfung und damit dieselben Fragen wie Du.“) oder Erlebnissen (z.B. „Ich habe denselben Sonnenuntergang wie Du gesehen.“). Wenn etwas mit etwas anderem identisch ist, dann ist es dasselbe wie das andere – der alltägliche Sprachgebrauch geht also davon aus, dass wir bei identischen Dingen nicht zwei (komplett) verschiedene Dinge vor uns haben, sondern nur eines.
Genau das meint der Satz der Identität, der wohl das erste mal vom deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) formuliert wurde:
„Eadem vel Coincidentia sunt quae sibi ubique substitui possunt, salva veritate.“
(„Dieselben oder Koinzidierende sind jene, die überall füreinander substituiert werden können, wobei die Wahrheit erhalten bleibt.“) (Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Grundlagen des logischen Kalküls. Hamburg 2000, S. 68)
In der Logik bezeichnet „Identität“ demnach eine zweistellige Relation, die reflexiv, symmetrisch und transitiv ist: Alles ist mit sich selbst identisch (Reflexivität), wenn A identisch mit B ist, so ist auch B mit A identisch (Symmetrie) und wenn A mit B identisch ist und B mit C, so ist auch A mit C identisch (Transitivität).
Fraglich ist, was mit dieser Relation in Beziehung zueinander gesetzt werden kann. Kann man überhaupt davon sprechen, dass Gegenstände, Aufgaben oder Erlebnisse identisch miteinander sind? Oder können nur abstrakte Entitäten wie Mengen und Zahlen identisch sein? Oder Aussagen und Sätze?
In der Umgangssprache finden sich in der Regel zwei verschiedene relationale Identitätsbegriffe: Wenn zwei materiell verschiedene Gegenstände keine unterschiedlichen Eigenschaften aufweisen, nennt man diese Gegenstände „qualitativ identisch“ und bezieht sich dabei auf eine solche Menge von Eigenschaften, die die entsprechenden Gegenstände vollständig beschreibt. Wenn es sich de facto um ein und denselben Gegenstand handelt, spricht man von „numerischer Identität“.
Wenn man also umgangssprachlich davon spricht, dass man dasselbe Auto zweimal gesehen hat, meint man ein einziges Auto, also eine numerische Identität – wobei man dann davon ausgeht, dass Ort und Zeit nicht zu den dem Gegenstand zukommenden Eigenschaften zu zählen sind. Spricht man aber davon, dass man zwei gleiche Autos gesehen habe, meint man umgangssprachlich eine etwas aufgeweichte qualitative Identität – was normalerweise impliziert, dass man zumindest davon ausgeht, dass man Unterschiede zwischen den Autos benennen könnte, nämlich mindestens ihren unterschiedlichen Ort in Raum und Zeit, was aber bei materiellen Gegenständen notwendigerweise auch andere, qualitative Eigenschaften voneinander unterscheidbar macht, da die beiden Autos, wenn sie denn an unterschiedlichen Orten in Raum und Zeit zu finden sind, ja aus unterschiedlicher Materie gefertigt sein müssen.
Ob dieses Konzept von „qualitativ identisch“ ohne numerische Identität deshalb überhaupt im einem strengen Sinne sinnvoll ist, ist unter Logikern umstritten: Ohne soweit zu gehen, dass man den Ort in Raum und Zeit als (reale) Eigenschaft eines Gegenstandes auffasst, kann man zumindest bei materiellen Gegenständen dann, wenn man numerische Identität verneint, neben Raum und Zeit aufgrund der materiellen Extension noch andere Unterschiede benennen.
Aber auch ob das Konzept von „numerischer Identität“ bedeutsam ist, ist umstritten. So schreibt etwa Ludwig Wittgenstein (1889-1951), ein österreichisch-britischer Philosoph, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkte und die Entwicklung der analytischen Philosophie maßgeblich beeinflusst hat, in seinem 1921 erschienen Werk „Tractatus logico-philosophicus“:
„Dass die Identität keine Relation zwischen Gegenständen ist, leuchtet ein.“ (Ludwig Wittgenstein: Tractatus, 5.5301)
Und weiter:
„Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts.“ (Ludwig Wittgenstein: Tractatus, 5.5303)
Wittgenstein betont also, dass Identität im Bereich der Extension unsinnig ist – was bei ihm heißt, dass man dann, wenn man behauptet, man habe dasselbe Auto zweimal gesehen, einen Kategorienfehler begeht: Identität ist nach dieser Auffassung ebenso wenig eine Beziehung zwischen Gegenständen, wie Tonhöhe eine Eigenschaft eines Steins ist. Wird aber, so Wittgenstein weiter, von nur einem Gegenstand behauptet, er sei identisch mit sich selbst, so sei dies eine Tautologie und folglich nichtssagend.
Nun sind aber Identitätsaussagen ganz offensichtlich nicht immer nichtssagend: Zwar ist der Satz „Christian Rabanus ist Christian Rabanus“ in der Tat recht nichtssagend, aber der Satz „Samuel Longhorne Clemens ist Mark Twain“ ist dies keineswegs: Er enthält nämlich die Information, dass die Person, die vielen Menschen als der Autor Mark Twain bekannt ist, anderen Personen (auch, vielleicht sogar nur) unter dem Namen „Samuel Longhorne Clemens“ bekannt ist oder war – Samuel Longhorne Clemens hat unter dem Pseudonym „Mark Twain“ seine Schriften publiziert.
Die Crux steckt bei diesem Informationsgewinn in dem oft übersehenen Unterschied zwischen dem Erwähnen und dem Verwenden von Wörtern (welcher Unterschied übrigens in der geschriebenen Sprache erklärt, wann Anführungsstriche gesetzt werden sollten und wann nicht): Im Satz „‚Mensch‘ ist ein Wort mit sechs Buchstaben“ wird das Wort „Mensch“ erwähnt (und werden Anführungsstriche um das Wort „Mensch“ gesetzt), während in dem Satz „Alle Menschen sind sterblich“ das Wort „Menschen“ verwendet wird, d.h. es wird auf seinen Sinn, bzw. seine Extension, nämlich die Mitglieder einer bestimmten Spezies von Lebewesen, rekurriert, nämlich die Menschen (und das Wort „Menschen“ wird dabei übrigens nicht in Anführungsstriche gesetzt). Im Anschluss an den amerikanischen Sprachphilosophen Richard Rorty (1931-2007) kann man das auch so fassen: Wenn wir ein Wort verwenden, setzen wir es als fragloses und selbstverständliches sprachliches Werkzeug ein und setzen damit – meist implizit – voraus, dass die Bedeutung eines verwendeten Wortes bei den Gesprächspartnern bekannt ist. Beides tun wir nicht, wenn wir das Wort erwähnen.
Der Sinn der Identitätsaussage „Samuel Longhorne Clemens ist Mark Twain“ lässt sich vor diesem Hintergrund ausführlich so formulieren:
Es gibt einen Menschen, der unter dem Namen „Mark Twain“ bekannt ist. Für diesen Menschen gibt es einen weiteren Namen, unter dem er bekannt ist. Dieser weitere Name ist „Samuel Longhorne Clemens“.
Etwas kürzer und unter Rekurs auf die Unterscheidung Erwähnen-Verwenden formuliert, lautet der Satz wie folgt:
„Samuel Longhorn Clemens“ (Erwähnung des Namens, Anführungsstriche) ist Mark Twain (Verwendung des Namens, um eine Person = Extension zu bezeichnen, keine Anführungsstriche).
Gerade an letzterem Satz wird deutlich, dass die Antwort auf die Frage, welcher Name nun erwähnt und welcher verwendet wird, vom bisherigen Erfahrungskontext des Sprechers abhängt: Eine mit Samuel Longhorm Clemens aufgewachsene Person wird vielleicht irgendwann einmal überrascht ausrufen: „Ach schau an, mein alter Sandkastenfreund Samuel schreibt unter dem Pseudonym ‚Mark Twain‘.“ Die meisten von uns, die Mark Twain als Autor der Geschichten von Tom Sawyer und Huckleberry Finn kennen, werden wohl eher so auf die Erkenntnis der Identität von Mark Twain und Samuel Longhorn Clemens reagieren: „Wirklich, Mark Twain heißt eigentlich ‚Samuel Longhorn Clemens‘?“
Identität als performativer Begriff
Der alltägliche Sprachgebrauch kennt aber noch eine andere Bedeutung, mit der der Begriff „Identität“ verwendet wird, nämlich eine performative Bedeutung, die Zugehörigkeit stiftet oder ausdrückt. Wenn man von etwas die Identität feststellt, indem man dieses etwas als etwas Bestimmtes identifiziert, drückt man eine Zugehörigkeit dieser Entität zu einer Klasse aus. Der Ornitologe identifiziert einen Vogel beispielsweise anhand seines Gesangs, seiner Größe und seines Gefieders als zugehörig zu einer bestimmten Gattung. In diesem Sinne besteht die Identität eines Vogels dann z.B. darin, ein Rotkehlchen zu sein.
Der relationale Identitätsbegriff steht dabei in gewisser Weise im Hintergrund: Der individuelle Vogel zeigt sich qualitativ identisch mit einem idealen Vogel der entsprechenden Gattung. Oder in Termini der Logik ausgedrückt: Der einzelne Vogel wird identifiziert als Instanz der Klasse. Oder ontologisch-platonisch ausgedrückt: Dieses Rotkehlchen dort kann als Rotkehlchen identifiziert werden aufgrund seiner Teilhabe an der Idee der Rotkehlchenheit.
Während nun unsere Identifikation des Rotkehlchens als eines solchen das einzelnen Rotkehlchen selbst nicht verändert (zumindest soweit wir das wissen), sieht die Sache beim Menschen in Bezug auf die Relevanz der Identifikation als etwas anders aus. Grund dafür ist, dass der Mensch nicht einfach so vor sich hin existiert, sondern ein reflektierendes und sich zu sich verhaltendes Wesen ist, das in seinem Sein um dieses weiß und sich um dieses sorgt. Dieses Faktum hat wohl als erstes der dänischen Philosophen Sören Kierkegaard (1813-1855) entdeckt, der formulierte:
„Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist dasjenige am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.“ (Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Hamburg 1995, S. 9)
Auf diese, zunächst etwas kompliziert anmutende Bestimmung des Selbst wird später noch einzugehen sein – für den aktuellen Kontext ist Kierkegaards Betonung wichtig, dass das Selbst etwas mit dem „dass“ des Selbstverhältnisses zu tun hat: Auch Tiere z.B. verhalten sich zu sich selbst, sie putzen sich, fressen und trinken, empfinden Schmerz, Angst und Freude. Aber sie sind sich dieses Selbstverhältnisses nicht bewusst – zumindest gehen wir bei den meisten Tieren davon aus. D.h.: Sie wissen nicht um dieses Selbstverhältnis. Der Mensch weiß aber darum, bzw. kann dieses Wissen zumindest aktualisieren und wird somit mit dem „dass“, also dem Faktum, dass er sich zu sich selbst verhält, konfrontiert.
Sobald sich der Mensch also mit etwas – einem Wertesystem, einer Gruppe, einer Kultur, einem Arbeitgeber, einer Aufgabe etc. – identifiziert oder identifiziert wird, bzw. im Gegenteil eine Identifikation löst und sich distanziert oder distanziert wird, verändert das den Menschen aufgrund seines – zumindest latent – bewussten Selbstverhältnisses. Das diese (Selbst-)Identifikation in der Tat handlungsleitend ist, haben unter anderem sozialpsychologische Experimente von Henri Tajfel (1919-1982) in den 1970er Jahren gezeigt, aus der später die „Theorie der sozialen Identität“ hervorging: Tajfels Experimente, die sog. „Minimal-group“-Experimente, zeigen, dass unabhängig von faktischen Gegebenheiten wie Alter, Ethnie, Staatsangehörigkeit oder Religion allein die bewusste Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, mit der sich ein Individuum identifiziert oder identifiziert wird, zu einer statistisch eindeutigen Bevorzugung der eigenen Gruppe und zu einer vorurteilsbeladenen und letztlich unfairen Behandlung fremder Gruppen führte. Dabei versteht Tajfel unter der sozialen Identität „den Teil des Selbstkonzepts eines Individuums […], der sich aus seinem Wissen um seine Mitgliedschaft in sozialen Gruppen und aus dem Wert und der emotionalen Bedeutung ableitet, mit dem diese Mitgliedschaft besetzt ist“ (Henri Tajfel: Gruppenkonflikt und Vorurteil. Entstehung und Funktion sozialer Stereotypen. Bern 1982, S. 102). Die Gruppenzugehörigkeit ist rein kognitiv und wird emotional positiv bewertet („Ich weiß um meine Zugehörigkeit zur Gruppe der Akademiker und finde es gut, dass ich Akademiker bin.“) – ohne dass diese Bewertung auf empirischer Basis beruhen würde, d.h. ohne dass das Individuum schon von seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe deutlich profitiert hätte.
Die moderne Entwicklungspsychologie geht davon aus, dass der Prozess der Identifizierung zunächst mit den engsten Bezugspersonen, später dann mit sozialen Gruppen einen wesentlichen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und Selbstwertstiftung leistet: Die Übernahme von Denk- und Verhaltensweisen sowie Wertvorstellungen durch Verinnerlichung und Nachahmung sowie die Verarbeitung und Überprüfung derselben, die – im Falle einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung – auch wieder mit der Distanzierung von bestimmten Denk- und Verhaltensweisen sowie Wertvorstellungen verbunden sein kann, führt zu Herausbildung einer gereiften Persönlichkeit und eines unverwechselbaren Ich. Der Selbstwert wird wesentlich durch die Rückmeldungen der Bezugspersonen und -gruppen bestimmt. Das Ich lebt dabei immer in der Spannung zwischen eigener Wahl und Individualität einerseits, sowie den von außen übernommen und angenommenen Strukturen andererseits. In der Sozialphilosophie von George Herbert Mead (1863-1931) taucht dieser Gedanke wie folgt auf:
„Identität entwickelt sich; sie ist bei der Geburt anfänglich nicht vorhanden, entsteht aber innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses, das heißt im jeweiligen Individuum als Ergebnis seiner Beziehungen zu diesem Prozess als Ganzem und zu anderen Individuen innerhalb dieses Prozesses.“ (George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt 1998, S. 177)
Mead unterscheidet dabei zwei Aspekte des Ich, nämlich einen eher rezeptiven und reflektierenden, dem ME, von einem aktiven und impulsiven, dem I. Die Erlebnisse des Menschen werden vom ME verarbeitet und selektiv einer in der Selbstreflexion objektivierbaren Persönlichkeit zugeordnet. Das ME verkörpert „die organisierte Gruppe von Haltungen anderer, die man selbst einnimmt“ (George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt 1998, S. 218), während das I, das Freiheit und Initiative repräsentiert, als „[…] Reaktion des Organismus auf die Haltungen anderer […]“ (George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt 1998, S. 218) gesehen werden kann. In der Erinnerung werden die spontanen Reaktionen, soweit sie für den Menschen relevant sind, in das ME integriert. So bringen sich I und ME gegenseitig hervor: I reagiert auf ME und ME integriert I.
Krisen, in denen eine vormalige Identifikation aus freien Stücken oder gezwungenermaßen aufgehoben und neue Identifikationen vorgenommen werden, gehören zum normalen Leben und Erleben des Menschen. Diese Krisen wirken sich in der Regel um so stärker auf den Selbstwert eines Menschen aus, je weniger der Mensch sein Ich in sich selbst gefestigt hat, d.h. je mehr der eigene Selbstwert von einem positiven Feedback der Umgebung abhängig ist. Fällt dieses Feedback weg, etwa weil eine wichtige Peergruppe sich aufgelöst oder das Individuum ausgestoßen hat, kann es zu teilweise massiven Anpassungsproblemen an die neue Situation kommen – wobei die Suche nach neuen Identifikationsmöglichkeiten in der Regel eine der bedeutsamsten Aufgaben darstellt. Oder anders gesagt: Je mehr vom Kern der eigenen Identität durch die Krise betroffen ist, umso leidensvoller wird die Krise erlebt und umso größer ist, bzw. scheint die Aufgabe, neue Identifikationsmöglichkeiten zu finden.
Substantieller Begriff der Identität
Aus dem Sich-Identifizieren-Mit erwächst – zumindest im Alltagsverständnis – so etwas wie die Identität des Menschen. Was aber ist diese Identität? Worin besteht die Identität eines Menschen? Nur aus seinen Bezügen zu anderen Personen und Gruppen oder gibt es da noch mehr? Gibt es so etwas wie eine Substanz oder einen substantiellen Kern, der als Identität eines Menschen zu fassen ist?
Über die Identifikationen, die ein Mensch eingeht, bildet sich zweifelsohne so etwas wie eine persönliche, bzw. personale Identität oder ein „Charakter“ heraus. Das Wesentliche dieses Charakters besteht darin, dass er für ein Programm von spontan ablaufenden, in der Regel nicht willentlich gesteuerten Denk- und Verhaltensmustern steht, die den persönlichen Stil eines Menschen ausmachen – die aber nichts desto trotz zumindest prinzipiell willentlich kontrolliert werden können. Wenn es beispielsweise mein Stil ist, dass ich mich leger kleide, werde ich spontan immer erst zur Jeans und zum Pulli greifen. Aber ich kann – wenn ich mir z.B. den Anlass vergegenwärtige, für den ich mich kleide – Jeans und Pulli auch im Schrank lassen und Anzug und Hemd anziehen. Oder wenn ich mich als fürsorglichen Vater definiere, werde ich zunächst meine Bedürfnisse hinten denen meiner Kinder zurück stellen – kann mich aber auch hier anders entscheiden, wobei das vermutlich dann mehr Aufmerksamkeit auf das eigene Tun verlangt als vor allem nach den Bedürfnissen meiner Kinder zu schauen und damit meine Handlungen nach einem bekannten Muster ablaufen zu lassen.
Wenn sich diese Muster soweit verselbständigen, dass sie nicht mehr hinreichend, d.h. für die jeweilige Person zufriedenstellend kontrollierbar sind, spricht, bzw. sprach man in der psychopathologischen Tradition in der Regel davon, dass eine „neurotische Störung“ vorliegt – mein Unwohlsein im Anzug wird vermutlich noch nicht als neurotische Störung zu einzustufen sein, wenn ich aber immer ein schlechtes Gefühl habe, wenn ich ausnahmsweise meine Bedürfnisse denen meiner Kinder vorziehe, kann dies schon zweifelhafter sein. Es liegt auf der Hand, dass der Übergang zwischen einem „starken“ Charakter mit ausgeprägtem und ggfs. ausgefallenem Stilbewusstsein und einer neurotischen Störung fließend ist – wobei anzumerken ist, dass der Begriff der Neurose in der neueren Psychopathologie in der Regel vermieden wird, da er sich nur sehr schwer definieren und insbesondere auch schwer von an sich unproblematischen, wenngleich vielleicht außergewöhnlichen Eigenheiten abgrenzen lässt.
Als Identität des Menschen kann man nun in einem substantiellen Sinne das verstehen, was als Resultat von Identifikationen, also letztlich als Resultat von Entwicklungsprozessen in den Bestand an disponiblen Denk- und Verhaltensweisen übergegangen ist. Der Phänomenologe Edmund Husserl (1859-1938) hat hier von „Habitualitäten“ gesprochen und charakterisiert die Identität eines Menschen unter dem Titel „personales Ich“ wie folgt:
„Indem aus eigener aktiver Genesis das Ich sich als identisches Substrat bleibender Ich-Eigenheiten konstituiert, konstituiert es sich in weiterer Folge auch als ‚stehendes und bleibendes‘ personales Ich […]. Sind auch die Überzeugungen im allgemeinen nur relativ bleibende, haben sie ihre Weisen der Veränderung (durch Modalisierung der aktiven Positionen, darunter Durchstreichung oder Negation, Zunichtemachung ihrer Geltung), so bewährt das Ich in solchen Veränderungen einen bleibenden Stil, einen personalen Charakter.“ (Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Hamburg 1987, S. 69)
Freilich ist das Substrat, von dem Husserl spricht und das beispielsweise Meads ME weitgehend entspricht, etwas in „aktiver Genesis“ Entstandenes, bzw. Geschaffenes, also nichts Vorgegebenes. Identität in diesem substantiellen Sinne ist das Resultat einer Entwicklung und ist folglich inhaltlich auch abhängig von der Entwicklung – die wiederum vom Individuum willentlich in bestimmte Richtungen gelenkt wird. Die Genesis, von der Husserl spricht, ist „aktiv“, d.h. aus dem freien Willen des Menschen heraus gesteuert.
„Entscheide ich mich z.B. erstmalig in einem Urteilsakte für ein Sein und Sosein, so vergeht dieser flüchtige Akt, aber nunmehr bin ich, und bleibend, das so und so entschiedene Ich, ‚ich bin der betreffenden Überzeugung‘. Das sagt aber nicht bloß, ich erinnere mich oder kann mich weiterhin des Aktes erinnern. Das kann ich auch, wenn ich inzwischen meine Überzeugung ‚aufgegeben‘ habe. Nach der Durchstreichung ist sie nicht mehr meine Überzeugung, aber sie ist es bis zu ihr hin bleibende gewesen. Solange sie für mich geltende ist, kann ich auf sie wiederholt ‚zurückkommen‘ und finde sie immer wieder als die meine, die mir habituell eigene, bzw. ich finde mich als das Ich, das überzeugt ist – durch diesen bleibenden Habitus als verharrendes Ich bestimmt ist; ebenso für jederlei Entscheidungen, Wert- und Willensentscheidungen.“ (Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Hamburg 1987, S. 68)
Eine Habitualität wird mehr oder weniger bewusst angenommen und fällt nicht einfach so in das Individuum ein. Husserl spricht an der zitierten Stelle nur von bewussten Entscheidungen für ein bestimmtes Verhalten und erwähnt nicht, dass sich eine Habitualität auch halb-bewusst herausbilden kann – grundsätzlich widerspricht letzteres aber nicht Husserls philosophischem Ansatz. Ganz im Gegenteil: Husserl hat sich auch intensiv mit dem Konzept der „passiven Synthesis“, also einer mentalen Leistung, die nicht-bewusst vollzogen wird, beschäftigt. Das „Einschleifen“ eines Habitus würde in den Bereich der passiven Synthesis fallen, in dem auch die Tatsache, dass insbesondere soziale und kulturelle Umstände der Persönlichkeitsentwicklung die Annahme bestimmter Habitualitäten fördern und gleichzeitig die Ablehnung anderer Habitualitäten behindern können.
Transzendentaler Begriff der Identität
Was darunter zu verstehen ist, wenn sich die Identität im substantiellen Sinne verändert, wurde eben gerade bereits erwähnt: Habitualitäten können angenommen und wieder abgelegt werden, Identifikationen können erworben werden und wieder verloren gehen. Die Identität eines Menschen verändert sich dabei – und zwar teilweise extrem. Wenn sich ein Mensch stark verändert, sagt man gerne, dass er nicht mehr derselbe sei oder gar dass er nicht mehr er selbst sei – wohl wissend, dass man natürlich gleichzeitig jederzeit bejahen würde, dass es sehr wohl ein- und derselbe Mensch sei, von dem man solches aussagt. Nichts desto trotz sind solche Redensarten nicht sinnlos (wenngleich auch nicht sprachlich genau) und drücken genau das aus, was mit dem Titel dieser Veranstaltung gemeint ist: Identität hat etwas paradoxes, denn die menschliche Identität ist einem ständigen Wandel unterworfen und trotzdem bleibt der Mensch immer derselbe. Dieses Paradox beschäftigt die Philosophie schon seit ihren ersten Anfängen. Zu einiger Berühmtheit haben es Fragmente des Vorsokratikers Heraklit von Ephesos (520 v. Chr. – 460 v. Chr.) gebracht, in denen genau dieses Paradox mit dem Bild eines Flusses ausgedrückt wird:
„Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben […]“ (Wilhelm Capelle (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Stuttgart 1968, S. 132 (Fragment 49a))
Oder anders formuliert:
„Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ (Wilhelm Capelle (Hrsg.): Die
Vorsokratiker. Stuttgart 1968, Fragment 91)
Der griechische Philosoph Platon (428/427 v. Chr. – 348/347 v. Chr.) hat Heraklits Lehre vom beständigen Werden und Vergehen in seine Philosophie als das Prinzip des materiellen Daseins aufgenommen und in dem Satz „Alles bewegt sich fort und nichts bleibt“ zusammengefasst (Platon: Kratylos 402A = A6). Die griffige und bekannte Kurzformel „panta rhei“ – „alles fließt“ wurde erst vom Neuplatoniker Simplikios (490-560) unter Rekurs auf Platon geprägt (vgl. (Hermann Diels: Simplicius, In Aristotelis physicorum libros quattuor posteriores commentaria. Berlin 1895, S. 1313).
Was ist nun das verbindende, das es trotz allem Wandel und aller Veränderung erlaubt, von ein- und demselben Menschen zu sprechen? Was entspricht also beim Menschen dem unveränderten Flusslauf, der es erlaubt, mit Sinn davon zu sprechen, zweimal in denselben Fluss zu steigen, obwohl das Wasser mittlerweile weiter geflossen ist?
Die Antwort auf diese Frage hat die Philosophie der Neuzeit im Anschluss an und in Auseinandersetzung mit einem Konzept des deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) entwickelt. Kant hat sich in seiner Spätphilosophie, der sog. „kritischen Philosophie“, unter anderem intensiv der Frage gewidmet, was der Mensch sei, wie dem Menschen überhaupt Erkenntnisse möglich und wo der systematische Platz von Religion, Glauben und metaphysischen Ideen wie Welt, Seele und Gott sei. Als Kern seiner kritischen Lehre und quasi als Dreh- und Angelpunkt aller Erkenntnis und allen Glaubens sieht Kant einen Ich-Pol, den er „transzendentale Apperzeption“ nennt:
„Das Bewusstsein seiner selbst, nach den Bestimmungen unseres Zustandes bei der inneren Wahrnehmung, ist bloß empirisch, jederzeit wandelbar, es kann kein stehendes oder bleibendes Selbst in diesem Flusse innerer Erscheinungen geben, und wird gewöhnlich der innere Sinn genannt oder die empirische Apperzeption. Das, was notwendig als numerisch identisch vorgestellt werden soll, kann nicht als ein solches durch empirische Data gedacht werden. Es muss eine Bedingung sein, die vor aller Erfahrung vorhergeht und diese selbst möglich macht, welche eine solche transzendentale Voraussetzung geltend machen soll. Nun können keine Erkenntnisse in uns stattfinden, keine Verknüpfung und Einheit derselben untereinander, ohne diejenige Einheit des Bewusstseins, welche vor allen Datis der Anschauungen vorhergeht, und worauf in Beziehung alle Vorstellung von Gegenständen allein möglich ist. Dieses reine ursprüngliche, unwandelbare Bewusstsein will ich nun die transzendentale Apperzeption nennen.” (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Riga 1781, S. 107)
Die transzendentale Apperzeption ist ein „reines“ Selbstbewusstsein, also ein Bewusstsein seiner selbst ohne irgendeine empirische Charakterisierung. Der Pol „transzendentale Apperzeption“ hat nur eine rein formale Aufgabe, nämlich Einheit des Bewusstseins zu stiften. Kant formuliert diesen Gedanken wie folgt:
„Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich oder wenigstens für mich nichts sein. Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird. Diese Vorstellung aber ist ein Aktus der Spontaneität, d. i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine Apperzeption, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewusstsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle anderen muss begleiten können, und in allem Bewusstsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann. Ich nenne auch die Einheit derselben die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins, um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen. Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewusstsein gehörten, d. i. als meine Vorstellungen (ob ich mir ihrer gleich nicht als solcher bewusst bin) müssen sie doch der Bedingung notwendig gemäß sein, unter der sie allein in einem allgemeinen Selbstbewusstsein zusammenstehen können, weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden.“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Riga 1787, S. 131 ff.)
Kant betont in diesen Sätzen immer wieder die Möglichkeit der Aktualisierung des Bewusstseins der einheitsstiftenden Instanz „transzendentale Apperzeption“, die er hier auch als „Ich denke“ bezeichnet. Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jede Begierde, jede Vorstellung – kurz: jede kognitive Regung eines Menschen muss mit einem „Ich denke“ oder einem „Ich fühle“ oder einem anderen, passenden „Ich xyz“ begleitet werden können, um als je mein Gedanke/Gefühl/Begehren/etc. identifiziert werden zu können. Würde es nicht möglich sein, einen Gedanken mit einem „Ich denke“ zu begleiten, würde die Einheit des Menschen zerbrechen – und genau das passiert z.B. bei einer Psychose, wenn z.B. sich die Symptome Gedankenlautwerden (in mir werden die Gedanken anderer gedacht), Gedankenentzug (jemand entzieht meine Gedanken) oder Gedankeneingebung (jemand drängt mir seine Gedanken auf) zeigen; darauf werde ich am Ende dieses Referats noch kurz eingehen.
Weiterhin betont Kant dann die Notwendigkeit der Einheit der Apperzeption als Einheitsprinzip auch des empirischen Bewusstseins eines Menschen:
„Nämlich diese durchgängige Identität der Apperzeption eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen enthält eine Synthesis der Vorstellungen und ist nur durch das Bewusstsein dieser Synthesis möglich. Denn das empirische Bewusstsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts. Diese Beziehung geschieht also dadurch noch nicht, dass ich jede Vorstellung mit Bewusstsein begleite, sondern dass ich eine zu der anderen hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewusst bin. Also nur dadurch, dass ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewusstsein verbinden kann, ist es möglich, dass ich mir die Identität des Bewusstseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d. i. die analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgendeiner synthetischen möglich.“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Riga 1787, S. 133)
Kant geht in seiner Argumentation davon aus, dass es ein Bewusstsein der Einheit des Subjekts gibt, er geht also von einem empirischen Faktum aus. Basierend darauf ergibt sich für Kant die Frage, wie diese Einheit gebildet werden kann – das, was im Bewusstsein zunächst präsent ist, sind unterschiedliche Vorstellungen, ist ein „Mannigfaltiges der Anschauung“, wie es Kant nennt. Und trotzdem können wir alle Anschauungen uns als einem einigen Subjekt zuordnen, haben wir ein Bewusstsein davon, dass wir den Strom der sinnlichen und gedanklichen Erlebnisse haben und dass dies ein zusammenhängender Strom ist. Das ist nach Kant nur unter der Voraussetzung möglich, dass es ein einheitsstiftendes Prinzip gibt – und dieses ist die transzendentale Apperzeption. Das Wort „transzendental“ verwendet Kant dabei derart, dass er damit das bezeichnet, was auf eine Bedingung von Erfahrung bezogen ist.
Die Idee eines transzendentalen, in gewisser Weise formalen Kerns des Menschen als eines erlebenden, wahrnehmenden, erkennenden Wesens ist von den Kant nachfolgenden Philosophengenerationen immer wieder aufgenommen worden, wobei Kants Konzept natürlich teils neu gewendet und revidiert wurde. Insbesondere der oben schon zitierte Phänomenologe Edmund Husserl hat sich auf die Idee einer transzendentalen und einheitsstiftenden Subjektivität bezogen, ja sie sogar ins Zentrum seiner Philosophie gestellt. Neben, bzw. konstitutionslogisch vor dem oben schon eingeführten Ich als eines Substrats von Habitualitäten kennt Husserl nämlich auch das Ich eines „transzendentalen Ego“, das einerseits dasjenige Ego ist, das überhaupt Erlebnisse ermöglicht, andererseits aber auch immer dasselbe Ego ist, das ein Einheitserlebnis der strömenden Erlebnisse ermöglicht – das also als „identischer Pol der Erlebnisse“ zu verstehen ist:
„Das Ego selbst ist für sich selbst seiendes in kontinuierlicher Evidenz, also sich in sich selbst als seiend kontinuierlich konstitutierendes. Nur eine Seite dieser Selbstkonstitution haben wir bisher berührt, nur auf das strömende cogito hingeblickt. Das Ego erfasst sich nicht bloß als strömendes Leben, sondern als Ich, der ich dies und jenes erlebe, dies und jenes cogito als derselbe durchlebe.“ (Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Hamburg 1987, S. 67)
Wenn der Mensch auf sich selbst reflektiert, bemerkt er also nicht nur, dass er etwas erlebt, sondern auch dass es immer derselbe Mensch ist, der da etwas erlebt. Dieser über die Zeit hin selbe Mensch hat jetzt diese und jene aktuellen Erlebnisse, die gleich schon vergangen sind. Dann sind sie aber nicht weg, sondern sinken langsam aus der Gegenwart in die Vergangenheit ab und werden als Erinnerungen verfügbar oder fallen dem Vergessen anheim.
Wird ein vergangenes Erlebnis aus der Erinnerung wieder re-aktualisiert, wird neben dem Inhalt des Erlebnisses immer auch aktualisiert, dass Ich es war, der dieses Erlebnis hatte. Husserl spricht in diesem Zusammenhang davon, dass wir über das Vermögen einer „reproduktiven Einbildungskraft“ verfügen, denn genauso wie bei beim Vermögen der produktiven Einbildungskraft stehen ja keine aktuellen Sinneswahrnehmungen zur Verfügung, die eine Vorstellung bilden könnten. Im Gegensatz zur produktiven Einbildungskraft, die z.B. bei Phantasien am Werke ist, ist die reproduktive Einbildungskraft bei der Bildgebung nicht frei, sondern an das gebunden, was in der Erinnerung (noch) zur Verfügung steht. Nicht zuletzt gehören dazu auch Identifizierungen, die das Selbstbild (und Selbstwertgefühl) wesentlich prägen.
Ontologischer Begriff der Identität
Die auf Kant zurückgehende Linie der Subjektivitätsphilosophie, in der auch z.B. Husserl steht, beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie es der Mensch schafft, seine Umwelt mit Sinn wahrzunehmen. Aus den transzendentalen Überlegungen, die diese Philosophen anstellen, resultieren dann auch ontologische Implikationen – also Folgerungen über das Sein des Menschen.
Unter anderem war es Husserl mit der Phänomenologie, als deren Begründer er gilt, der neuartige ontologische Untersuchungen methodisch möglich gemacht hat; schon vor Husserl, bzw. zeitgleich mit Husserl haben Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche (1844-1900) nach einem neuen Verständnis des Menschen gesucht, das den Menschen vor allem als konkret erlebendes Wesen sieht. Insbesondere die Fragen der letzteren beiden haben zusammen mit Husserls neu entwickelter philosophischer Methode die Geburt der Existenzphilosophie möglich gemacht, in der das menschliche Ich in seinen konkreten Bezügen und Verstrickungen in der Welt gefasst werden soll. Es geht in der Existenzphilosophie weniger darum, wie der Mensch zu einer sinnhaften Wahrnehmung seiner Umwelt kommt, sondern mehr darum, was ihn in seinem innersten Kern eigentlich ausmacht, worin das Wesentliche seiner Existenz besteht.
Wie oben schon angeführt, sieht Kierkegaard die wesentlich Bestimmung des Selbst im Faktum seines Selbstverhältnisses. Aus der Perspektive der Frage nach der Identität ist dabei interessant, dass das Selbst sich auch zu diesem Faktum verhalten kann, dass es das Selbstverhältnis wollen oder aber auch ablehnen kann. Nach Kierkegaard ist das Selbst nicht aus eigener Kraft zu sich selbst ins Verhältnis gesetzt, sondern durch etwas Drittes, was das Selbstverhältnis des Menschen zu etwas Abgeleitetem macht (da es ja von etwas Drittem gesetzt ist). Daraus wieder resultiert die Möglichkeit einer zweifachen Form von Verzweiflung:
„Ein solches abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, und sich, indem es sich zu sich selbst verhält, zu etwas anderem verhält. So ist zu erklären, dass zwei Formen eigentlicher Verzweiflung möglich sind. Hätte das Selbst des Menschen sich selbst gesetzt, so käme nur eine Form in Frage, diejenige, nicht man selbst sein zu wollen, sich selbst loswerden zu wollen, aber es käme nicht in Betracht, verzweifelt man selbst sein zu wollen. Diese Formel ist nämlich der Ausdruck für die Abhängigkeit des ganzen Verhältnisses (des Selbst), der Ausdruck dafür, dass das Selbst nicht durch sich selbst zu Gleichgewicht und Ruhe kommen oder darin sein kann, sondern nur dadurch, dass es sich, indem es sich zu sich selbst verhält, zu demjenigen verhält, von dem das ganze Verhältnis gesetzt worden ist.“ (Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Hamburg 1995, S. 9 f.)
Verzweiflung kann nach Kierkegaard die Nicht-Identität mit sich selbst bedeuten – nämlich dann, wenn die Verzweiflung darin besteht, „verzweifelt man selbst sein zu wollen“. Dahinter steht die Überzeugung, eigentlich anders zu sein als man sich empfindet, steht das Streben nach einem bestimmten Sosein, das einem vorgestellten Ideal entspricht. Die Verzweiflung rührt daher, dass verkannt wird, dass es gar nicht ein eigentliches Sosein gibt, sondern dass Selbstsein immer In-Selbstverhältnis-Sein bedeutet – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Die zweite Form der Verzweiflung, nämlich verzweifelt „nicht man selbst sein zu wollen“, drückt eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Selbstbild aus, das absolut inakzeptabel erscheint. Wieder steht ein Idealbild hinter dieser Verzweiflung, das nicht dem eigenen Selbstbild entspricht: Das Idealbild von einem Sosein anders als dem eigenen. Wieder wurzelt diese Form der Verzweiflung darin, dass die verhältnishafte Struktur des Selbst nicht erkannt wird, sondern das Selbst substantialistisch missverstanden wird.
Für Kierkegaard gibt es eine Auflösung der Verzweiflung dann, wenn das Sein des Selbst als Verhältnis akzeptiert wird:
„Das ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz ausgerottet ist; indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, von der es gesetzt wurde.“ (Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Hamburg 1995, S. 10)
Modern ausgedrückt ist die Selbstakzeptanz damit nach Kierkegaard die beste Kur gegen die Verzweiflung. Bei Kierkegaard beinhaltet diese Selbstakzeptanz auch die Akzeptanz des Faktums, dass das Selbst nicht durch sich selbst gesetzt ist, sondern durch etwas Drittes – und das ist bei Kierkegaard Gott.
Der deutsche Philosoph Martin Heidegger (1889-1976) nimmt in seinem dem Frühwerk zuzuordnenden Buch „Sein und Zeit“ (erschienen 1927) ebenfalls die ontologische Verfasstheit des Menschen in den Blick – und zwar methodisch im Anschluss an Edmund Husserl, inhaltlich im Anschluss an Sören Kierkegaard.
Von letzterem übernimmt Heidegger insbesondere die Überzeugung, dass sich der Mensch zu sich selbst verhält und dass ihn dies etwas angeht, dass dies existentielle Relevanz für den Menschen hat. Der Weltbezug des Menschen ist nach Heidegger bestimmt durch die Befindlichkeit des Menschen: Unter Befindlichkeit versteht Heidegger nicht diese oder jene Stimmung, sondern die Grundstruktur, dass der Mensch in seinem Sein in der Welt immer irgendwie gestimmt ist, dass ihm in diesem Sinne sein Sein nicht egal ist, sondern ihn berührt. Deshalb kann Heidegger sagen:
„Die Befindlichkeit ist eine existenziale Grundart, in der das Dasein sein Da ist.“ (Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1986, S. 139)
Der Ausdruck „existenziale Grundart“ besagt, dass das Sein des Menschen, das beim Heidegger von „Sein und Zeit“ „Dasein“ heißt, der Welt immer gestimmt begegnet, bzw. dem Menschen die Welt gestimmt erschlossen ist. Da es ihm in der Welt um sich selbst geht, sich das Selbst als in dem von Kierkegaard entdeckten „Dass“ des Selbstverhältnises findet, besteht nach Heidegger das Sein des Menschen in der Welt als „Sorge“:
„Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden). Dieses Sein erfüllt die Bedeutung des Titels Sorge, der rein ontologisch-existential gebraucht wird.“ (Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1986, S. 192)
In dieser Formel drückt Heidegger auch die zeitliche Verfasstheit des menschlichen Daseins aus, dessen Sein in der Sorge besteht:
Der Mensch ist nach Heidegger immer schon in der Welt – diese Faktizität des Weltbezugs nennt Heidegger „Geworfenheit“. Sie bedeutet die Eingebundenheit in einen historisch-kulturellen Kontext, also den Bezug zur Vergangenheit des Menschen, sowohl der eigenen, persönlichen Vergangenheit, als auch der Vergangenheit der durch Andere gebildeten Umwelt.
Außerdem ist der Mensch sich immer schon vorweg: Er entwirft sich. Der Charakter des „Entwurfs“ gehört nach Heidegger ebenfalls zur ontologischen Struktur des Daseins. Über den Entwurf bezieht sich der Mensch immer schon auf die Zukunft, er schmiedet Pläne und sorgt sich um seine Zukunft.
Schließlich gibt es den Bezug auf die Gegenwart durch das „Sein-bei“ den Gegenständen in der Welt – und zwar hier und jetzt. Der Mensch engagiert sich in der Welt, er verstrickt sich in die Welt, er kann der Welt verfallen. All das sind Möglichkeiten des gegenwärtigen Lebens.
Die Einheit und Identität des Ich über die Zeit ergibt sich bei Heidegger aus der Struktur der Sorge, die die drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereint und dadurch dem Menschen seine Geschichtlichkeit und seine Geschichte verleiht.
Im Sinne des ontologischen Begriffs der Identität bezeichnet diese eine ontologische Struktur, die nichts mehr mit einem bestimmten Sosein zu tun hat, aber den Rahmen vorgibt, in dem sich eine jeweilige substantielle Identität herausbilden kann. Der ontologische Begriff der Identität impliziert die Wandelbarkeit der ontischen Merkmale der Identität, also die Wandelbarkeit dessen, was als substantieller Begriff der Identität bezeichnet werden kann.
Krankhafte Identitätsstörungen und -veränderungen
Zum Abschluss soll noch ein kurzer Blick auf zwei krankhafte Formen von Identitätsstörungen, bzw. -veränderungen geworfen werden, nämlich auf Demenz und Schizophrenie. Vor dem Hintergrund der hier vorgetragenen Analysen der Identität lassen sich diese beiden Formen von Identitätsstörungen und -veränderungen gut verstehen.
Insbesondere sollte hier deutlich geworden sein, dass zumindest philosophische Überlegungen den Schluss auf eine krankhafte oder a-normale Identitätsbildung und/oder -veränderung nicht zulassen auf der Basis von bestimmten Eigenschaften, Verhaltens- oder Denkformen. Da Identität in einem substantiellen Sinn immer ein Resultat einer Entwicklung ist und diese Entwicklung unaufhörlich voran schreitet, sind Veränderungen für das einzelne Individuum oder die Umgebung des Individuums vielleicht schwer nachvollziehbar, aber grundsätzlich nicht a-normal oder gar krankheitsandeutend. Ganz im Gegenteil: Bleibt Veränderung aus, ist vielmehr Grund zur Sorge geboten. Die in der Regel sicherlich nett gemeinte Wiedersehensformel nach längerer Zeit „Du hast Dich ja überhaupt nicht verändert!“, verursacht deshalb bei einer ganzen Reihe von Menschen eher Alarmierung als Zufriedenheit.
Demenz
Das von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegebene Klassifikationssystem für Krankheiten in seiner aktuellen Ausgabe, das ICD-10 (ICD steht für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“), kennt im Kapitel 5 mit dem Titel „Psychische und Verhaltensstörungen“ vier unterschiedliche Typen von Demenz, die unter den Codes F00, F01, F02 und F03 zu finden sind; am häufigsten sind die Typen F00, Demenz bei Alzheimer-Krankheit, die ca. 60-80% aller Demenzfälle ausmacht und bei der die Funktion von Nervenzellen im Gehirn durch krankhafte Eiweiße gehemmt ist, gefolgt von der vaskulären Demenz (F01), bei der Hirnregionen durch Durchblutungsstörungen („Mini-Schlaganfälle“) geschädigt werden.
Die Symptome der unterschiedenen Demenztypen sind dabei im wesentlichen gleich, die Differenzierung in unterschiedliche Typen geschieht entsprechend unterschiedlicher organischer Ursachen.
Als typische Symptome des dementiellen Syndroms nennt man in der Regel:
- Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, wobei insbesondere anfangs vor allem das Kurzzeitgedächtnis betroffen ist, bei fortschreitendem Krankheitsverlauf aber auch Verlusterscheinungen im Langzeitgedächtnis auftreten können
- Beeinträchigung von Urteilsfähigkeit und Denkvermögen
- Störungen der Affektkontrolle, des Antriebs und des Sozialverhaltens
Insbesondere dann, wenn sich das dementielle Syndrom „nur“ in einer beeinträchtigten Gedächtnisfunktion zeigt, ist man in der Regel noch nicht geneigt, von einer Identitätsveränderung zu sprechen. Wenn dagegen das Urteils- und Denkvermögen abnimmt und sich das Sozialverhalten und die Affektkontrolle ändern, nimmt man von außen eine deutliche Identitätsveränderung wahr.
Vor dem Hintergrund der eben vorgetragenen Analysen kann man sagen, dass beim dementiellen Syndrom insbesondere die substantielle Identität bedroht ist. Die Denk- und Verhaltensgewohnheiten eines Menschen, die ganz wesentlich seinen Stil ausmachen und seinen Charakter prägen, basieren auf habitualisierten und nicht-habitualisierten Erinnerungen. Wenn durch eine Störung der Hirnfunktionen diese Erinnerungen nicht mehr verfügbar sind, verliert der Mensch nach und nach mit diesen Erinnerungen auch seine Identität. Der Mensch lebt immer mehr nur noch im Hier und Jetzt und wird von dem bestimmt, was im Hier und Jetzt aktuell ist. Vergangenheit und Zukunft, oder mit Heidegger gesprochen: Geworfenheit und Entwurf werden immer nebensächlicher und stehen irgendwann nicht mehr zur Verfügung.
Die Einheit der Person ist dagegen in der Regel bei Demenzkranken nicht beeinträchtigt. Der Kranke weiß zwar nicht mehr unbedingt, was er gemacht hat, wie seine Vergangenheit war oder welche Zukunftspläne er hatte, er hat damit oft auch Schwierigkeiten, die Reaktionen seiner Umgebung auf sein Verhalten zu verstehen, aber soweit er noch zur Reflexion in der Lage ist, kann er sein Erleben und insbesondere auch das Erleben seines Vergessens und des Schwindens seiner geistigen Fähigkeiten sich selbst zuordnen. Die Identifizierung mit dieser Entwicklung, also die Integration der Demenz in das eigene Selbstbild, gelingt allerdings nicht allen Demenzkranken.
Schizophrenie
Die Schizophrenie wird im ICD-10 unter dem Code F20 verzeichnet und gehört zu den wahnhaften Störungen. Typische Symptome sind unter anderem Wahrnehmungsstörungen wie Halluzinationen (zu diesen Symptomen gehört z.B. das Hören von Stimmen ohne entsprechende physische Sinnesreize) und wahnhafte inhaltliche Denkstörungen (z.B. Verfolgungs- und Überwachungswahn, der in der wahnhaften Deutung tatsächlich wahrgenommener Ereignisse besteht – der Mann mit dem Hut, der an der Bushaltestelle wartet, wird zum feindlichen Agenten, die Satellitenschüssel am Haus gegenüber zum Abhörinstrument).
Philosophisch interessant sind bei der Schizophrenie vor allem die sog. „Ich-Störungen“, die ebenfalls zu den Hauptsymptomen einer Schizophrenie gehören. Unter solchen „Ich-Störungen“ versteht man z.B. Fremdbeeinflussungserleben (die betroffenen Personen fühlen sich fremdgesteuert), Gedankenausbreitung (die eigenen Gedanken breiten sich derart aus, dass sie auch von anderen Gedacht werden – Kants „ich denke“ wandelt sich in ein „wir denken“ oder ein „du denkst“; jemand anderes denkt meine Gedanken) und Gedankeneingebung (jemand anders flößt der betroffenen Person seine Gedanken ein, die Gedanken werden zwar von der betroffenen Person gedacht, aber können nicht mehr eigentlich von einem „ich denke“ begleitet werden, da sie nicht die eigenen Gedanken sind). Bei einer Ich-Störung wird die transzendentale Integrität des Ich angegriffen, womit auch die Einheit des Ich zu zerfallen droht. Zwar besteht die Einheit der Person von außen gesehen nach wie vor, aber im Erleben des betroffenen Menschen ist die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden nicht mehr unbezweifelbar möglich.
Schluss
Ich fasse zusammen: Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildete der relationale Identitätsbegriff, der – performativ vollzogen – zu einem Begriff substantieller Identität führt. Diese substantielle Identität ist Resultat einer Persönlichkeitsentwicklung und ist grundsätzlich einem stetigen Wandel unterworfen. Die Einheit der Person in diesem Wandel, d.h. die Einheit der persönlichen Identität wird in der Reflexion durch ein transzendentales Ich geleistet, dessen ontologische Struktur mit dem Titel der Sorge bezeichnet werden kann, wobei sich das Dasein seine Welt in Gestimmtheit erschließt und sich seine zeitliche Verfasstheit darin manifestiert, dass es in die Welt geworfen aus einem Entwurf heraus auf sich selbst zurück kommt in seinem Engagement in der Welt. Diese Struktur kann durch Störungen wie Demenz und Schizophrenie durchbrochen werden – was einerseits eine neue Perspektive auf dieses Struktur ermöglicht, andererseits den Charakter der genannten und vergleichbarer Störungen und ihre Auswirkung auf der Erleben der je betroffenen Person zu verstehen hilft.
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