Das Drama der Leitkultur – vom Sinn und Unsinn gesellschaftspolitischer Debatten

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Das Drama der Leitkultur – vom Sinn und Unsinn gesellschaftspolitischer Debatten

Von Christian Rabanus, Wiesbaden

Referat für die Diskussionsveranstaltung Lust am Denken im Bellevuesaal Wiesbaden (3.6.2017)

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I. Geschichte des Begriffs „Leitkultur“

 

Bevor hier auf die Frage eingegangen werden soll, ob die Debatte über eine Leitkultur im Kontext der Suche nach Bedingungen und Möglichkeiten der Integration von Zuwanderern in Deutschland sinnvoll ist oder nicht, sei kurz der Verlauf dieser Debatte in den letzten gut 20 Jahren zusammengefasst. Dadurch kann deutlich werden, wo in diesem Kontext relevante Aspekte, Streitpunkte und Übereinstimmungen bestehen und wo es nur um (parteipolitisch motivierten) Theaterdonner geht.

1996 – Der arabischstämmige Islamwissenschaftler Bassam Tibi (geboren 1944 in Damaskus) veröffentlicht 1996 den Aufsatz „Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust“. In diesem Aufsatz beschreibt er seine Sicht auf Multikulturalismus, den er als Werte-Relativismus versteht. In diesem sieht er eine Gefahr für die Demokratie, da Demokratie auf der Akzeptanz eines gewissen Wertekanons basiere. Als Gegenentwurf argumentiert Tibi für eine Kulturpluralität und führt den Begriff der „Leitkultur“ als Integration stiftendes Moment ein. Tibi schreibt:

„In diesem Essay wird deutlich gemacht, dass die Kritik am Multikulturalismus sich nicht gegen eine verantwortungsvoll gesteuerte Migration, sondern gegen einen Werte-Verlust im Zeichen einer kulturellen Selbstverleugnung richtet. Mit anderen Worten: Es geht hier nicht um eine ‚Festung Europa‘, sondern um den inneren Frieden auf dem Kontinent.

Es wird ein Kulturpluralismus befürwortet, in dessen Rahmen Einheimische und Migranten parallel zur Vielfalt jeweils eigener Werte einen Konsens über eine Leitkultur als Quelle von Werte-Verbindlichkeit anerkennen. Gelingt dies nicht, dann ist der innere Frieden in Gefahr.“ (Bassam Tibi: Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust. In: Aus Politik und Zeitgeschehen (1996), B 52/53)

In diesem Aufsatz wird von Tibi nicht, bzw. nur ganz holzschnittartig eine inhaltliche Definition von Leitkultur gegeben. Dazu gehöre im Kern die Akzeptanz der Staatsform Demokratie, der Trennung von Staat und Religion sowie der Geltung universeller Bürger- und Menschenrechte. Insbesondere ist in Tibis Aufsatz an keiner Stelle von einer deutschen Leitkultur oder einer Leitkultur für Deutschland die Rede. Ganz im Gegenteil: Das bei Tibi formale Element der Leitkultur wird als europäischer Wertekanon verstanden.

Schließlich ist Leitkultur für Tibi ein integratives Element: Sie soll die Gesellschaft zusammen- und den Frieden erhalten. Für Migranten soll sie als Leitfaden der selbst gewählten und angestrebten Integration fungieren können. Dabei ist es Tibi wichtig zu betonen, dass seine Forderung nach Akzeptanz einer europäischen Leitkultur nicht darauf hinausläuft, dass die Ursprungskultur der Migranten aufgegeben werden soll, er fordert also keine Assimilation:

„Demokratische Integration und kulturelle Assimilation sind zweierlei, ebenso wie auch kulturelle Vielfalt und Multikulti zweierlei sind. Es geht um die Anerkennung einer Leitkultur als Quelle einer verbindlichen Werte-Orientierung, eines friedlichen Miteinanders und eines demokratischen, pluralistischen Interessenausgleichs.“ (ebd.)

1998 – Zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Tibis Aufsatz, und ohne dass sich aufgrund dieses Aufsatzes eine vernehmbare Diskussion entwickelt hätte, initiierte der damalige Berliner Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) eine in der Berliner Zeitung geführte Kontroverse mit einem Beitrag, der am 22.6.1998 veröffentlicht wurde. Schönbohm antworteten diverse Autorinnen und Autoren, unter anderem am 8.7.1998 der spätere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD).

Schönbohm nimmt – allem Anschein nach in Kenntnis des Aufsatzes von Tibi, aber ohne expliziten Bezug auf ihn – die Argumentation von Bassam Tibi auf: Er wendet sich gegen Multikulturalismus, den auch er mit Werteverfall verbunden sieht, und plädiert für kulturelle Pluralität. Im Gegensatz zu Tibi aber bezieht sich Schönbohm auf eine „deutsche Leitkultur“, nicht auf eine abendländisch-europäische, und instrumentalisiert die „deutsche Leitkultur“ als Polemik gegen die aus den Reihen der Partei der Grünen und der damaligen PDS geforderte multikulturelle Gesellschaft – was eine Zielrichtung darstellt, die Tibi ebenfalls nicht beabsichtigte. Schönbohm setzt die Existenz einer „deutschen Leitkultur“ voraus und sieht sich als deren Anwalt; in seinen Ausführungen schwingt mehr oder weniger unterschwellig mit, dass in einer multikulturellen Gesellschaft die Existenz dieser Leitkultur gefährdet sei:

„Das Modell der ‚Multikultur‘ nimmt die Aufgabe der deutschen Leitkultur zugunsten gleichrangiger Parallelgesellschaften billigend in Kauf oder strebt sie direkt an. […] Die grundlegende Kultur in Deutschland ist aber die deutsche; dazu gehört untrennbar der Grundwertekanon der Verfassung, der sich im Lauf der Geschichte entwickelt hat und im Grundgesetz kodifiziert ist.

[…]

Mit der Aufgabe der Leitkultur, auf deren Entwicklungen und historischen Erfahrungen unsere heutige Verfassung beruht, würde notwendig eine Relativierung der Wertbestände verbunden sein. […] Weder die Assimilierung ausländischer Mitbürger noch die Förderung von Parallelgesellschaften innerhalb der deutschen Kultur können das Ziel sein, sondern einzig die Integration in unsere politische Kultur. Keine funktionierende Gesellschaft, auch nicht die deutsche, kommt dabei ohne die prägende Kraft seiner Leitkultur aus.“ (Jörg Schönbohm: Kulturelle Vielfalt statt multikultureller Gesellschaft. Zu einer realistischen Integrationspolitik. In: Berliner Zeitung vom 22.6.1998)

In seiner Erwiderung auf Schönbohm betont Wolfgang Thierse, dass es seines Erachtens gar nicht möglich sei, eine genau abgrenzbare deutsche Kultur zu identifizieren, womit es mithin auch keine spezifisch „deutsche Leitkultur“ geben könne. Er schreibt:

„Es gibt sie nicht, die genau abgrenzbare ‚deutsche‘ Kultur. Sie unterliegt vielmehr einem beständigen Wandel, ist Einflüssen von außen ausgesetzt, entwickelt immer neue Mischformen. […] Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es zum Eigentümlichen der deutschen Kultur […] gehört hat, dass sie in besonders intensiver Weise kulturelle Einflüsse aus West (der romanischen Kulturen) und Ost (der slawischen und orientalischen Kulturen) zu integrieren vermochte.“ (Wolfgang Thierse: Weder Assimilation noch Zerfall in Teilgesellschaften. Zusammenleben braucht Anerkennung. Unsere deutsche Mischkultur. In: Berliner Zeitung vom 8.7.1998)

Freilich fordert auch Thierse die Anerkennung eines gemeinsamen gesellschaftlichen Rahmens als Voraussetzung für die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens auf deutschem Boden; dazu bemüht er aber nicht den Begriff der Leitkultur, sondern bezieht sich auf den von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts ausgearbeiteten Begriff des „Verfassungspatriotismus“: Im Gegensatz zu einem auf einer Zugehörigkeit zu einer Ethnie gründenden Patriotismus bedeutet Verfassungspatriotismus die Identifikation des Menschen mit einer bestimmten politischen Kultur, die durch Grundwerte, Institutionen und Verfahren einer republikanischen Verfassung wie z.B. dem Grundgesetz bestimmt ist. Damit liegt Thierse auf gleicher Linie wie schon Tibi, der sich in seinem Aufsatz „Leitkultur als Wertekonsens. Bilanz einer missglückten deutschen Debatte“ von 2002 dann gleichermaßen auf den Verfassungspatriotismus im Sinne von Sternberger und Habermas bezieht.

Thierse fordert genauso wie Tibi den Respekt vor der fremden Kultur und eine „Politik der Anerkennung“ (ebd.) derselben, die „die Integrität des einzelnen auch in seinen identitätsbildenden Lebenszusammenhängen schützt“ (ebd.). Explizit verwahrt sich Thierse gegen die Forderung einer „Zwangsintegration in eine angebliche deutsche Leitkultur“ (ebd.).

2000/2001 – War die Kontroverse über die Leitkultur im Jahr 1998 noch (relativ) lokal auf Berlin beschränkt, so holte sie Friedrich Merz im Oktober 2000 als Fraktionsvorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion auf die nationale Bühne. In einem Artikel in der Zeitung Die Welt vom 25.10.2000 knüpft er genauso wie bereits zwei Jahre zuvor Jörg Schönbohm die Aussicht auf erfolgreiche Integration von Zuwanderern an die Bedingung der Akzeptanz einer „freiheitlichen deutschen Leitkultur“:

„Einwanderung und Integration können auf Dauer nur Erfolg haben, wenn sie die breite Zustimmung der Bevölkerung findet. Dazu gehört, dass Integrationsfähigkeit auf beiden Seiten besteht: Das Aufnahmeland muss tolerant und offen sein, Zuwanderer, die auf Zeit oder auf Dauer bei uns leben wollen, müssen ihrerseits bereit sein, die Regeln des Zusammenlebens in Deutschland zu respektieren.

Ich habe diese Regeln als die ‚freiheitliche deutsche Leitkultur‘ bezeichnet.“ (Friedrich Merz: Einwanderung und Identität. In: Die Welt vom 25.10.2000)

Neben dieser Forderung der Akzeptanz einer „freiheitlichen deutschen Leitkultur“ expliziert Merz zwei interessante Aspekte, die bei Thierse und Schönbohm zwar schon mitschwangen, aber noch nicht klar zum Ausdruck gekommen sind:

Einerseits benennt er, dass Integration ein wechselseitiger Prozess ist, keine Einbahnstrasse – implizit schwingt dieser Gedanke auch schon in Thierses Forderung nach einer „Politik der Anerkennung“ mit, allerdings ist er bei Thierse eben noch nicht expliziert. Wenn also Integration wechselseitig ist, dann kann sie auch nur dann gelingen, wenn beide Seiten – die der Neuankömmlinge und die der Eingesessenen – zu ihrem Gelingen beitragen.

Andererseits expliziert Merz einen Gedanken, der bei Schönbohm schon implizit zu finden war: Nämlich dass Zuwanderung, insbesondere da, wo sie massiv ist, Angst um die kulturelle Identität der Eingesessenen verursachen kann.

Allerdings werden diese beiden Aspekte bei Merz nur benannt und nicht weiter untersucht und/oder ausgearbeitet. Immerhin aber führte die Wiederaufnahme des Begriffs „deutsche Leitkultur“ im Anschluss an den Artikel von Friedrich Merz einerseits zu einem nicht unerheblich parteipolitisch motivierten Geplänkel in den Plenardebatten des Bundestags, die vom 25.-27.10.2000 stattfanden und in denen sich der damalige Außenminister Joseph Fischer von den Grünen ausdrücklich zu einem Verfassungspatriotismus im Sinne von Sternberger/Habermas bekannte, andererseits setzte eine breit angelegte politisch-gesellschaftliche Debatte über Sinn und Unsinn von Leitkultur in unterschiedlichsten Medien ein.

Als Summe dieser Debatte, die im Jahr 2000 und auch noch im Jahr 2001 teilweise sehr engagiert geführt wurde, kann man trotz der natürlich nach wie vor bestehenden inhaltlichen Differenzen ein paar Punkte als gesellschaftlichen Konsens festhalten. Folgendem Diktum von Norbert Lammert (CDU) ist sicherlich vollumfänglich zuzustimmen:

„Wenn an der aufgeregten öffentlichen Auseinandersetzung über Leitkultur irgendetwas wirklich deutsch ist, dann der teutonische Eifer, mit der sie geführt wird.“ (Norbert Lammert: Leitkultur – Eine deutsche Diskussion. In: Die Politische Meinung (2001), Bd. 374)

Auch Lammerts Befund, dass „der Streit um den Begriff in einem auffälligen Kontrast zu der inzwischen bemerkenswerten Übereinstimmung in der Sache“ (ebd.) stehe, kann als Konsens gelten – wobei diese Übereinstimmung in der Sache dann mehr oder weniger auf eine Akzeptanz dessen hinausläuft, was als „Verfassungspatriotismus“ bezeichnet wird. Dass eine gelingende Integration in Deutschland ohne ein gewisses Maß an Verfassungspatriotismus, d.h. ohne eine Selbstverpflichtung auf die der Verfassung zugrunde liegenden Werte und kulturellen Vorstellungen, wohl nicht möglich sein wird, betonen alle hier bereits zu Wort gekommenen dramatis personae unabhängig von ihrer politischen Couleur.

Und sogar die Feststellung Lammerts, dass es „bei nüchterner Betrachtung durchaus zweifelhaft“ sei, ob es „eine ganz spezifische ‚deutsche Leitkultur‘“ (ebd.) gebe, kann wohl als Konsens der Debatte der Jahre 2000/2001 festgehalten werden – wenngleich diesbezüglich dann doch konstatiert werden muss, dass die Meinungen darüber, wie viel spezifisch Deutsches in dem in Deutschland geltenden generellen Grundkonsens enthalten sein muss, auseinander gehen. Während sich Denker und Akteure der politischen Linken eher mit dem formalen Begriff des Verfassungspatriotismus zufrieden geben, ist bei konservativen Denkern und Akteuren deutlich das Bestreben zu erkennen, doch noch irgendwo ein Eckchen Deutschland in den Verfassungspatriotismus zu integrieren. Als Beispiel dafür sei hier noch einmal Lammert zitiert:

„Das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft, in der alles nebeneinander und nichts wirklich gilt, ist eine solche Grundlage [nämlich für ein freiheitliches und friedliches Zusammenleben in Deutschland, C.R.] nicht. Der Theologe und Bürgerrechtler Richard Schröder hat dafür die besonders schöne Formel gefunden, das Nationale, also auch das Deutsche, sei nichts Besonderes, aber etwas Bestimmtes. […] Dabei stehen gewiss nicht Deutsche gegen Ausländer, sondern alle in Deutschland lebenden Menschen unter denselben universalen Ansprüchen.“ (ebd.)

In diesen konservativen Kreisen wurde in der Folgezeit, in der sich Norbert Lammert immer wieder durch die Forderung nach einer Fortsetzung der Debatte über die Leitkultur hervorgetan hat, die Rede von der „deutschen Leitkultur“ durch den unverfänglicheren Begriff einer „Leitkultur für Deutschland“ ersetzt (wobei die AFD hier eine Ausnahme darstellt – im 2016 verabschiedeten Grundsatzprogramm der AFD wird nach wie vor von einer „deutschen Leitkultur“ gesprochen) – und auch Innenminister Thomas de Maizière schreibt in seinem Artikel vom 30.4.2017 in der Bild am Sonntag entgegen der Überschrift mancher zitierender Medien (z.B. titelt Zeit Online am 30.4.2017: „‘Wir sind nicht Burka.‘ – Innenminister will deutsche Leitkultur“) übrigens nicht von einer „deutschen Leitkultur“ sondern von einer „Leitkultur für Deutschland“.

2016/2017 – Nachdem die Diskussion über eine Leitkultur nach der intensiven Debatte Anfang der 2000er-Jahre eher im Hintergrund blieb, ist sie von konservativer Seite durch vermehrte Verwendung dieses Begriffs – insbesondere durch die zentrale Platzierung desselben durch Innenminister Thomas de Maizière (CDU) – wieder angeheizt worden. Außer den bereits aus der Debatte von 2000/2001 bekannten Reflexen der Ablehnung und Verteidigung dieses Begriffs hat diese neuerlich aufgeflammte Diskussion inhaltlich allerdings bislang wenig Neues gebracht. Auch stellen Aufzählungen von Aspekten, die zu einer Leitkultur für Deutschland gehören sollen und die einerseits in dem „Aufruf zu einer Leit- und Rahmenkultur“ (veröffentlicht am 30.9.2016) einer Reihe von sächsischen CDU- und bayerischen CSU-Politikern genannt sind, die andererseits in der Aufzählung im Artikel „Leitkultur für Deutschland – was ist das eigentlich?“ vom 30.4.2017 von de Maizière (veröffentlicht unter anderem in der Bild am Sonntag und der Online-Ausgabe der Zeit) angeführt werden, größtenteils eine Reihe von teilweise fundamentalen und leicht zustimmungsfähigen Grundsätzen jeglicher demokratischer Grundordnung dar (z.B. „Gesellschaftliche Vielfalt bleibt nur dann friedlich, wenn alle bereitwillig dieselben Gesetze einhalten.“ (Aufruf zu einer Leit- und Rahmenkultur) – Oder: „Wir haben in unserem Land eine Zivilkultur bei der Regelung von Konflikten.“ (Leitkultur für Deutschland)), teilweise (vor allem im Beitrag des Innenministers) sind es Plattitüden, die in der Art ihrer Darstellung eher an Gutenachtgeschichten eines schon etwas senilen Märchenonkels als an ernst gemeinte gesellschaftspolitische Thesen erinnern (z.B. „Wir sind eine Kulturnation. Kaum ein Land ist so geprägt von Kultur und Philosophie wie Deutschland.“ (Leitkultur für Deutschland) – Oder: „Der Leistungsgedanke hat unser Land stark gemacht. Wir leisten auch Hilfe, haben soziale Sicherungssysteme und bieten Menschen, die Hilfe brauchen, die Hilfe der Gesellschaft an. Als Land wollen wir uns das leisten und als Land können wir uns das leisten. Auch auf diese Leistung sind wir stolz.“ (Leitkultur für Deutschland)). Nur am Rande tauchen bedenkliche Forderungen auf (z.B. „Ohne gemeinsame Selbstverständlichkeiten zerfällt eine Gesellschaft. Deutschland hat deshalb ein Recht zur Festlegung dessen, was weiterhin als selbstverständlich gelten soll.“ (Aufruf zu einer Leit- und Rahmenkultur)), die aber auch außerhalb dieser Debatte in bestimmten Kreisen gebräuchlich sind.

Zusammenfassung – Zusammenfassend kann man wohl sagen, dass es in dieser Debatte zu den konsensuellen Momenten gehört, dass die integrierende Gesellschaft, also die europäische, ein Recht und vor allem den Eingesessenen gegenüber auch die Verpflichtung hat, im Kontext der Integration von Zuwanderern auf die Einhaltung gewisser unverhandelbarer Grundwerte zu pochen; bzgl. dieser Grundwerte selbst gibt es zumindest im Kern ebenfalls keine großen Differenzen, wohl aber bzgl. der Frage, wie weit oder eng der Kanon dieser zu akzeptierenden Grundwerte zu fassen ist. Andererseits kann es auch als Konsens gelten, dass – zumindest von ernst zu nehmender Seite – niemand die Forderung erhebt, dass Zuwanderer ihre kulturelle Identität aufgeben müssen, um sich in Europa und/oder Deutschland integrieren zu können. Schließlich ist man sich auch einig darüber, dass Integration ein wechselseitiger Prozess ist, der nicht allein von den Zuwanderern in Gang gebracht und gehalten werden kann, sondern zu dessen Gelingen auch das Engagement der integrierenden Gesellschaft notwendig ist.

Unterschiede der Auffassungen müssen vor allem bzgl. der Frage festgehalten werden, aus welchem Prinzip die als notwendigerweise zu akzeptierenden Grundwerte abgeleitet werden sollten (da stehen sich das auf Ethnizität beruhende Konzept der „deutschen Leitkultur“ und das auf rationaler Übereinkunft beruhende Konzept des „Verfassungspatriotismus“ gegenüber) und wie eng oder weit der Kanon der zu akzeptierenden Grundwerte zu fassen sei, wie weitgehend sich Zuwanderer also anzupassen haben. Schließlich folgt aus dem akzeptierten Prinzip, das hinter dem unverhandelbaren Wertekanon steht, auch eine Antwort auf die Frage, ob von Zuwanderern mehr zu erwarten sei als von Eingesessenen: Zugehörigkeit qua Ethnie erübrigt die Frage nach einer expliziten Akzeptanz eines Wertekanons von den Angehörigen dieser zentralen Ethnie – und macht im strengen Sinne gelingende Integration unmöglich (denn ein ethnischer Araber wird nie ein ethnischer Europäer werden). In diesem Konzept muss dann die ethnisch nicht erreichbare Zugehörigkeit durch andere Integrationsleistungen, die die Eingesessenen nicht erbringen müssen, durch andere „Integrationsleistungen“ erkauft werden. Im Konzept des Verfassungspatriotisums gibt es eine solche Unwucht nicht: Da die Ethnie keine Rolle spielt, kommt es nur auf das Verhalten eines Menschen an, ob er sich als zugehörig zu einer bestimmten Gesellschaft erweist oder nicht. Von daher ist prinzipiell jeder Mensch hier mit gleichem Maß zu messen: Gerade von Deutschen, auf die eine Feststellung wie die von Armin Laschet, einem der stellvertretenden Vorsitzenden der CDU, zutrifft, die er Angesichts der fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Bautzen und Clausnitz im Frühjahr 2016 äußerte, nämlich dass „die Integration mancher Deutscher in unsere Leitkultur, die für Humanität, Respekt und Anstand steht, gescheitert“ sei (Armin Laschet gegenüber der Zeitung Die Welt, veröffentlicht im Artikel „Integration mancher Deutscher ist gescheitert“ am 21.2.2016), müsste dann auch als Zeichen vollumfänglicher Integration als Voraussetzung für die Wahrnehmung von bürgerlichen Rechten und Pflichten ein Bekenntnis zum Verfassungspatriotismus verlangt werden.

 

II. Kultur – Identität – Integration

 

Im Rückblick auf die nun schon über Jahrzehnte geführte Debatte über Leitkultur lassen sich eine Reihe von zentralen Fragen festhalten, die jeweils aufeinander bezogen sind:

1. Was ist eine „Leitkultur“?

2. Gibt es überhaupt eine „Leitkultur“? Und wenn ja: Kann es eine „deutsche“ Leitkultur geben, bzw. welche Attribuierung verträgt eine Leitkultur?

3. Wenn es denn eine wie auch immer geartete Leitkultur gibt: Wie sieht die aus? Kann sie definiert werden?

4. Inwiefern hängen Leitkultur und Identität einerseits, Leitkultur und Integration andererseits zusammen?

5. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Identität und Integration?

6. Was hat das ganze mit Weltanschauung und Weltbild zu tun?

Auf einige dieser Fragen soll nun noch eine kurze Antwort versucht werden.

 

Kultur und Kultivierung

 

Zunächst sei ein kurzer Blick auf die Ethymologie des Wortes „Kultur“ geworfen. Das lateinische Wort colere, dessen Substantivierung die lateinische cultura ist, die wiederum dem deutschen Wort „Kultur“ Pate steht, bedeutet Vergleichbares wie das, was die ursprüngliche Tätigkeit des Landwirts ist, nämlich pflegen, umsorgen; so entwickelt sich aus Brachland eine Kulturlandschaft.

Im übertragenen Sinne kann durch Kultur die rohe und ungefeilte Natur des Menschen verändert werden – es erwächst ein kultivierter Mensch. Dieser Prozess der Kultivierung kann nur innerhalb einer Gesellschaft gelingen. Er ist ein Teil des Prozesses, der den Menschen im eigentlichen Sinne zum Menschen macht.

Solche Kultur braucht Pflege und muss sich entwickeln. Die Entwicklung ist dabei niemals abgeschlossen, sondern ein fortdauernder Prozess. Kultur kann nicht aus dem Nichts geschaffen werden. Sie basiert auf einer Entwicklung, die zumindest in ihrem Beginn von außen initiiert werden muss. Kultur kann weiterhin weder hergestellt, noch erzwungen werden.

Die oftmals vorgenommene Gegenüberstellung von Kultur und Natur, in deren Kontext Kultur dasjenige bezeichnet, was der Mensch gestaltend hervorbringt, und Natur dasjenige, was ohne Zutun des Menschen entsteht, fokussiert nur auf den Aspekt der Involviertheit oder Nicht-Involviertheit des Menschen in das entsprechende Geschehen. Sie verschleiert aber die Verwandtschaft von Natur und Kultur, nämlich Verwandtschaft in dem Sinne, dass es in beiden Bereichen um Entwicklung geht, um Hegen und Pflegen – und insbesondere nicht um Herstellen oder Verordnen.

Der Begriff „Kultur“ kann nun als Formalbegriff in dem Sinne verwendet werden, dass es z.B. eine Gegenüberstellung von Natur und Kultur gibt, dass es also überhaupt so etwas wie eine Kultur, eine Art menschengemachte Ausformung von Sein gibt. In diesem Sinne wird „Kultur“ im Singular gebraucht.

Der Begriff „Kultur“ kann aber auch in einem spezifischeren Sinne verwendet werden als Bezeichnung für eine bestimmte Ausformung des menschlichen Seins. In diesem Sinne kann man von „Kulturen“ (also im Plural) sprechen.

Der Prozess der Kultivierung des Menschen hat etwas zu tun mit der Erziehung des Menschen. Nach Immanuel Kant, der sich darüber in seiner Vorlesung über Pädagogik aus dem Wintersemester 1776/77 geäußert hat, kann man bei der Erziehung, also der Kunst, den Menschen zum Menschen zu machen, vier verschiedene Aspekte unterscheiden:

„Bei der Erziehung muss der Mensch also 1) diszipliniert werden. Disziplinieren heißt suchen zu verhüten, dass die Tierheit nicht der Menschheit, in dem einzelnen sowohl, als gesellschaftlichen Menschen, zum Schaden gereiche. Disziplin ist also bloß Bezähmung der Wildheit.

2) Muss der Mensch kultiviert werden. Kultur begreift unter sich die Belehrung und die Unterweisung. Sie ist die Verschaffung der Geschicklichkeit. Diese ist der Besitz eines Vermögens, welches zu allen beliebigen Zwecken zureichend ist. Sie bestimmt also gar keine Zwecke, sondern überlässt das nachher den Umständen.

Einige Geschicklichkeiten sind in allen Fällen gut, z.B. das Lesen und Schreiben; andere nur zu einigen Zwecken, z.B. die Musik, um uns beliebt zu machen. Wegen der Menge der Zwecke wird die Geschicklichkeit gewissermaßen unendlich.

3) Muss man darauf sehen, dass der Mensch auch klug werde, in die menschliche Gesellschaft passe, dass er beliebt sei, und Einfluss habe. Hierzu gehört eine gewisse Art von Kultur, die man Zivilisierung nennt. Zu derselben sind Manieren, Artigkeit und eine gewisse Klugheit erforderlich, der zufolge man alle Menschen zu seinen Endzwecken gebrauchen kann. Sie richtet sich nach dem wandelbaren Geschmack jedes Zeitalters. So liebte man noch vor wenigen Jahrzehnten Zeremonien im Umgange.

4) Muss man auf die Moralisierung sehen. Der Mensch soll nicht bloß zu allerlei Zwecken geschickt sein, sondern auch die Gesinnung bekommen, dass er nur lauter gute Zwecke erwähle. Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise von Jedermann gebilligt werden; und die auch zu gleicher Zeit Jedermanns Zwecke sein können.“ (Immanuel Kant: Über Pädagogik. Königsberg 1803, S. 23 f.)

In diesem Kontext steht nach Kant also Kultur neben Disziplin, Zivilisation und Moral und stellt damit eines des vier wesentlichen Merkmale des menschlichen Daseins dar. Aber an dieser Stelle – nämlich bei der Erläuterung von Zivilisierung – und insbesondere im weiteren Fortgang der Vorlesung über Pädagogik wird klar, dass unter Kultur bei Kant nicht nur die „Verschaffung der Geschicklichkeit“ zu verstehen ist, sondern dass sie mehr umfasst: In einem weiteren Sinne gehören alle drei Prozesse – Kultivierung im engeren Sinne als Verschaffung von Geschicklichkeit, Zivilisierung als Erlernen eines gesellschaftlich angemessenen und anerkannten Umgangs und Moralisierung als Selbstbestimmung des eigenen Tun und Handelns im Einklang mit dem Sittengesetz – zur Kultivierung in einem weiteren Sinne, alle drei Aspekte – Geschicklichkeit im Sinne von Wissen und Fertigkeiten, Zivilisiertheit und Moralisiertheit – gehören also zur Kultur eines Menschen. Im europäisch-abendländischen Kontext bedeutet das beispielsweise ganz konkret: Dass man Goethe und Bach kennt und lesen und schreiben kann, gehört in den Bereich der Kultiviertheit im engeren Sinne, dass man Höflichkeitskonventionen beachtet, „bitte“ und „danke“ sagt, gehört in den Bereich der Zivilisierung und dass man schließlich die Gleichberechtigung von Mann und Frau als Selbstverständlich erachtet, ist ein Ausfluß der Moralisierung.

Nun ist Kants Kulturbegriff in diesem Sinne ein deskriptiver Individualbegriff. Jeder einzelne Mensch hat eine, nämlich ganz individuell seine Kultur – das ist im Allgemeinen nicht der heute übliche Kulturbegriff.

Im heutigen Sprachgebrauch versteht man unter Kultur eher etwas, das von einer Gruppe von Menschen ausgesagt werden kann, wobei sich diese Gruppenkultur und die Kultur der einzelnen Menschen wechselseitig bedingen und hervorbringen. So definiert etwa die „Erklärung von Mexiko-City über Kulturpolitik“ der UNESCO von 1982:

„Deshalb stimmt die Konferenz im Vertrauen auf die letztendliche Übereinstimmung der kulturellen und geistigen Ziele der Menschheit darin überein:

dass die Kultur in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden kann, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen.“ (Erklärung von Mexiko-City über Kulturpolitik der UNESCO, Mexiko 1982)

Diese Definition stellt eine Verallgemeinerung des kantischen Begriffsgebrauchs dar: Kultur ist nach wie vor ein deskriptiver Begriff, er bezieht sich aber auf eine ganze Gruppe von Menschen und deren „Aspekte“ (der englische Text spricht von „features“, es geht also um Eigenschaften, Merkmale und Eigenheiten). Ganz im kantischen Sinne fährt die Erklärung der UNESCO dann fort:

„dass der Mensch durch die Kultur befähigt wird, über sich selbst nachzudenken. Erst durch die Kultur werden wir zu menschlichen, rational handelnden Wesen, die über ein kritisches Urteilsvermögen und ein Gefühl der moralischen Verpflichtung verfügen. Erst durch die Kultur erkennen wir Werte und treffen die Wahl. Erst durch die Kultur drückt sich der Mensch aus, wird sich seiner selbst bewusst, erkennt seine Unvollkommenheit, stellt seine eigenen Errungenschaften in Frage, sucht unermüdlich nach neuen Sinngehalten und schafft Werke, durch die er seine Begrenztheit überschreitet“ (ebd.)

Freilich wird in diesem Passus auch klar, wo nun ein Unterschied zu Kants Begriffsgebrauch liegt: Während Kant die intellektuelle Erziehung, die der Disziplinierung folgt, in drei Stufen einteilt und auch begrifflich voneinander unterscheidet, fehlt diese Differenzierung bei der UNESCO – und, nebenbei bemerkt, auch in der gesamten Leitkultur-Debatte; in dieser wird an keiner Stelle eine explizite Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation gemacht, von Moral ganz zu schweigen.

Kultur als ein Begriff, der Eigenheiten eines Menschen, einer sozialen Gruppe oder einer ganzen Gesellschaft kennzeichnet, ist je inhaltlich bestimmt. Es gibt etwas, was die Kultur eines Nordamerikaners von der eines Italieners und der eines Chinesen unterscheidet. Auch die Kultur eines Hessen ist in diesem Sinne von der Kultur eines Bajuwaren unterschieden. Und die Kultur eines Angestellten des öffentlichen Dienstes wieder von der Kultur eines Freiberuflers. Dass es da Unterschiede gibt, wird wohl kaum jemand bestreiten, worin diese genau liegen, ist schon schwieriger festzustellen.

Bei der Suche nach den Unterschieden ist es hilfreich, sich an ein altes scholastische Definitionskonzept zu halten: Definitio fiat per genus proximum et differentiam specificam (Eine Definition geschieht durch die nächsthöhere Art und ein unterscheidendes Merkmal). Entsprechend dieser Regel kann z.B. ein Kanarienvogel von einem Rotkehlchen dadurch unterschieden (und gleichzeitig in Verbindung gesetzt) werden, dass beide Tierarten zu den Vögeln zählen (genus proximus), aber z.B. durch Gesang und Gefieder voneinander unterschieden sind (differentiae specificae). Und so macht es auch den Hessen im Unterschied zum Bajuwaren aus, dass er zu einer ethnisch deutschen Volksgruppe gehört, aber statt Bier lieber Apfelwein trinkt.

Wenn es um einzelne Aspekte geht, sind Unterschiede und Gemeinsamkeiten relativ schnell auszumachen, schwieriger wird es schon, eine Art vollständiger Beschreibung einer Kultur oder auch nur eine Beschreibung der wesentlichen Aspekte einer Kultur zu bewerkstelligen. Denn gehören nun Getränkevorlieben zu den wesentlichen Unterschieden zwischen der Kultur der Hessen und der Bajuwaren? Oder ist es der Dialekt? Oder die Tracht? Oder alles zusammen? Oder gibt es vielleicht Unterschiede nicht so offensichtlicher Art wie z.B. die innere Einstellung Autoritäten gegenüber, die Auffassung zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, Auffassungen bzgl. der Kindererziehung, etc.?

Unterschiede auszumachen ist also zunächst nicht so schwer, die Frage aber zu beantworten, welches die relevanten Unterschiede sind und welches relevante Gemeinsamkeiten sind, ist schon viel schwerer.

Ein Aspekt, der eine solche fixierte und fixierende Beschreibung von Kultur zusätzlich schwer macht, ist der prozesshafte Charakter von Kultur. Nicht ohne Grund spricht ja z.B. Kant von Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung, also von Prozessen. Teil der Erziehung ist der Prozess der Kultivierung im weiteren Sinne, nicht die einmalige Aneignung einer feststehenden Kultur. Und dieser Prozess ist niemals abgeschlossen. Kultur als Beschreibung eines Zustandes in dem hier verwendeten deskriptiven Sinne ist immer eine Momentaufnahme. Versteht man Kultur als Gesamtheit von Aspekten, dann ist Kultur immer auch schon wieder anders. Zwar verändert sich die Kultur eines Menschen oder einer Gruppe nicht unmittelbar komplett, sie bleibt aber auch nie komplett gleich. Die Tatsache, dass Menschen immer Einflüssen ihrer unbelebten und belebten Umwelt ausgesetzt sind, dass sie sich immer im Austausch mit ihren Mitmenschen befinden und in der Lage sind, auf ihr eigenes Selbst zu reflektieren (was ja – entsprechend der UNESCO-Definition – sogar eines der wesentlichen Momente ist, das die Kultur dem Menschen bringt), bedingt auch die Tatsache, dass sich der Mensch und damit auch seine Kultur ständig weiter entwickelt. Hauptziel der UNESCO-Erklärung zur Kulturpolitik ist ja auch die Absteckung eines Rahmens von je lokaler Politik, in dem diese kulturelle Entwicklung möglich wird auf der Basis der bereits bestehenden Kultur. Diese Entwicklung kann dabei durchaus auch wesentliche Elemente betreffen: Der moderne Bayer würde vermutlich auch als wesentliche Elemente der modernen bajuwarischen Kultur Innovationsfreude und High-Tech-Affinität nennen, also Elemente, die den Menschen im früher hauptsächlich landwirtschaftlichen geprägten Bayern in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts wohl eher fremd waren.

 

Identität und Identitätsstiftung

 

Kultivierung in einem weiten Sinne als eines der zentralen Elemente der Erziehung, bzw. mit Kants differenzierteren Sprachgebrauch Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung sind die zentralen Elemente von Erziehung und Selbsterziehung, also von Weiterentwicklung der eigenen menschlichen Persönlichkeit. Damit machen sie ein ganz wesentliche Elemente für die Identitätsstiftung eines Menschen, bzw. einer sozialen Gruppe aus. Soweit Kultivierung im weiten Sinne den Menschen erst zum Menschen macht, bestimmt auch die Art der Kultivierung und bestimmen Inhalte der Kultivierung die Art und Weise des Menschen, zu sein – was dann landläufig als die Identität des Menschen, einer sozialen Gruppe oder einer ganzen Gesellschaft bezeichnet wird. Mit der Entwicklung der Kultur, der je eigenen, der einer sozialen Gruppe oder der der Gesellschaft, entwickelt sich dann auch jeweils die Identität des je einzelnen Menschen und der sozialen Gruppe.

Es wurde nun schon mehrfach darauf hingewiesen, dass der Kulturbegriff hier deskriptiv verwendet wird. Der Begriff einer jeweiligen Kultur bezeichnet in diesem Sinne den je momentanen Zustand des Menschen oder einer Gruppe von Menschen in ihrem Prozess der Kultivierung. Dieser Prozess wird im Baby- und Kindesalter explizit durch Erziehung von außen initiiert. Wenn ein Mensch dem Kindesalter entwachsen ist, transformiert sich der Prozess der (Fremd-)Erziehung in einen Prozess der Selbsterziehung. Entscheidende Momente dabei sind beispielsweise die Orientierung an Vorbildern, Idolen und Autoritäten, die entweder implizit durch Vorleben oder explizit durch Vorschriften wirken. Aber auch das Umfeld, die Umwelt eines Menschen wirkt; und das natürlich nicht erst im Erwachsenenalter, sondern ganz wesentlich auch im (Klein-)Kindesalter. Die Art und Weise, wie im Elternhaus Konflikte ausgetragen werden, wie generell kommuniziert wird, welche Normen und Werte gelten, allgemein also: wie die gelebte Kultur aussieht, bestimmt ganz wesentlich die Entwicklung des Kindes.

Das Wirken von Kultur geschieht durch subtile Mechanismen der Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, Erfahrungen des Fremdseins und Angenommenseins, Erlebnisse von Heimat und Einsamkeit, Erfahrungen von Kritik und Anerkennung. Im jeweiligen Menschen selbst löst das Ausgesetztsein solchen Mechanismen gegenüber Reaktionen der Abwehr, der Assimilation, der Abgrenzung, der Anbiederung, des Kampfes, der Hingabe, etc. aus. Manche dieser Mechanismen sind bewusst und werden aktiv gewählt und gesteuert, andere, vielleicht sogar die meisten, vollziehen sich zunächst ohne Bewusstheit und wirken im Hintergrund – was dann oft den Eindruck erweckt, dass sie sich der Möglichkeit der Bewusstwerdung und der Beeinflussbarkeit entziehen würden.

Die Gesamtheit dieser subjektiven Reaktion auf die Einflüsse von Außen – sei es Fremderziehung, sei es Selbsterziehung, sei es bewusst oder unbewusst – manifestiert sich im Menschen in einer Struktur, die in der Philosophie als „Weltanschauung“ bezeichnet wird. Wilhelm Dilthey schrieb 1911 in seiner Abhandlung Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den Metaphysischen Systemen dazu:

„Die Weltanschauungen sind nicht Erzeugnisse des Denkens. Sie entstehen nicht aus dem bloßen Willen des Erkennens. Die Auffassung der Wirklichkeit ist ein wichtiges Moment in ihrer Gestaltung, aber doch nur eines. Aus dem Lebensverhalten, der Lebenserfahrung, der Struktur unserer psychischen Totalität gehen sie hervor.“ (Wilhelm Dilthey: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den Metapyhsischen Systemen. In: Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften, VIII. Band. Hrsg. v. B. Groethuysen. Leipzig/Berlin 1931, S. 86)

Karl Jaspers, ein weiterer exponierter Vertreter der sog. Weltanschauungsphilosophie, formulierte ein paar Jahre später, nämlich in seinem erstmals 1919 erschienenen Werk Psychologie der Weltanschauungen:

„Was ist Weltanschauung? Etwas Ganzes und etwas Universales. Wenn z.B. vom Wissen die Rede ist: nicht einzelnes Fachwissen, sondern das Wissen als eine Ganzheit, als Kosmos. Aber Weltanschauung ist nicht bloß ein Wissen, sondern sie offenbart sich in Wertungen, Lebensgestaltungen, Schicksal, in der erlebten Rangordnung der Werte. Oder beides in anderer Ausdrucksweise: wenn wir von Weltanschauungen sprechen, so meinen wir Ideen, das Letzte und das Totale des Menschen, sowohl subjektiv als Erlebnis und Kraft und Gesinnung, wie objektiv als gegenständlich gestaltete Welt.“ (Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen. München 1994, S. 2)

Den objektiven Gegenpart der Weltanschauung, den Jaspers hier nennt, bezeichnet man in der Regel als Weltbild (wobei dann – entgegen Jaspers‘ Begriffsgebrauch – als Weltanschauung nur die subjektive Gesamtheit bezeichnet wird). Das Weltbild und korrespondierend damit das, was dann je einfach als „Welt“ bezeichnet wird, ist eine objektive Manifestation der Weltanschauung.

In der je eigenen Weltanschauung und im je eigenen Weltbild zeigt sich die Identität eines Menschen. Will sich der Mensch selbst in seiner Verflechtung mit seiner Umwelt erkennen, muss er sich mit seiner Weltanschauung und damit den Kräften beschäftigen, die sein Weltbild formen. Eine solche Exploration bringt – wie auch Jaspers in der Vorbemerkung zu seinem 1919 publizierten Buch betonte – keine Antworten auf konkrete (Leben-)Fragen, wohl aber eine Orientierung darüber, wie wir an solche Fragen jeweils herangehen und welche Überzeugungen und Glaubenssätze dieses Herangehen prägen (und ggfs. auch einschränken).

 

Leitkultur und Integration

 

Um wieder auf Kultur zurück zu kommen: Das, was je deskriptiv im Begriff von Kultur gefasst werden kann, ist also durch die Prägung des Menschen und die damit verbundene Identitätsstiftung nicht wirkungslos, sondern ganz eminent wirksam. Die Deskriptivität des Kulturbegriffs bedeutet also keinesfalls, dass es keine kulturbildenden Kräfte geben würde, bzw. dass die kulturbildenden Kräfte nicht wirksam wären. Und natürlich kann auch jeder Mensch auf diese Kräfte selbst einwirken und sie verändern; das ist insbesondere in kleinen Gruppen eine oft sehr prägnante Erfahrung, dass sich nämlich die Kultur einer Gruppe durch das Ausscheiden von Personen oder durch das Hinzutreten von Personen deutlich ändert und sich damit auch die identitätsstiftende Kraft der Gruppe wandelt. Das Postulat allerdings, dass es so etwas wie eine normative Leitkultur gebe, oder die Forderung, dass eine solche Leitkultur geschaffen, etabliert oder definiert werden solle, , das Postulat also, dass es eine Leitkultur in einem normativen Sinne geben solle, geht aber noch einen wesentlich Schritt weiter als die Wirksamkeit von kulturbildenden Kräften zu konstatieren.

Zunächst muss in diesem Kontext vermieden werden, dem in der Philosophie als „naturalistischer Fehlschluss“ bezeichneten Irrtum aufzusitzen: Goerge Edward Moore hat in seinem 1903 erschienen Werk Principia ethica darauf hingewiesen, dass der Rückschluss von einem deskriptiven Satz (z.B. „Es gibt Menschen, die sich zur Gründung einer Lebensgemeinschaft gegengeschlechtliche Partnerinnen oder Partner suchen.“) auf einen normativen Satz (z.B. „Menschen sollen sich zur Gründung einer Lebensgemeinschaft gegengeschlechtliche Partnerinnen oder Partner suchen.“ – Oder: „Es ist natürlich, dass sich Menschen zur Gründung einer Lebensgemeinschaft gegengeschlechtliche Partnerinnen oder Partner suchen.“ – Oder: „Es ist widernatürlich, wenn sich Menschen zur Gründung einer Lebensgemeinschaft gleichgeschlechtliche Partnerinnen oder Partner suchen.“) logisch nicht zu rechtfertigen sei. Der Schluss von einem bestimmten Sein auf ein Sollen sei also nicht gültig.

Im Kontext der hier geführten Überlegungen bedeutet das: Selbst wenn es so etwas wie eine deutsche oder auch europäische Kultur geben sollte, würde allein daraus nicht folgen, dass sie so auch weiter existieren sollte, bzw. dass alle Menschen, die sich im Gebiet von Deutschland oder Europa aufhalten, auch dieser Kultur entsprechend leben sollten. Von einem Automatismus derart zu sprechen, dass eine vorgefundene Kultur als Leitkultur akzeptiert werden sollte, verbietet sich aus logisch-philosophischen Gründen.

Wer weiterhin Kultur als eine Gesamtheit „ungeschriebene[r] Regeln des Zusammenlebens“ bezeichnet (wie das Thomas de Maizière in seinem Beitrag in der Bild am Sonntag tut), der verwechselt Kultur mit Konvention. Wie oben schon betont, wirkt Kultur, bzw. wirken die kulturbildenden Kräfte ohne Zweifel, aber Kultur besteht nicht aus Regeln. Es gibt keine Regel, dass ein Bayer Bier mögen sollte, wohl aber die entsprechende Konvention (und ganz sicher das entsprechende Vorurteil). Auch gibt es keine Regel, dass man nur Deutscher sein kann, wenn man Goethe oder Bach kennt oder mag – und beide gehören zweifelsohne zur deutschen Kultur. Wer Kultur in einem normativen Sinne verwendet, betreibt letztlich Etikettenschwindel: Es wird dann im Namen der Kultur ein Normativ aufgestellt, das nicht selten nichts weniger als kulturell begründet ist, sondern vielmehr machtpolitisch.

Das bedeutet andererseits aber nicht, dass es einer Gesellschaft nicht zustehen sollte, Normative für das Zusammenleben und insbesondere auch für Integration zu definieren. Solche Normative, die es ja de facto in unserer deutschen und europäischen Gesellschaft gibt, sind kulturell gewachsen, bzw. sind aus unserer Kultur heraus entstanden (die Verankerung des Asylrechts im Grundgesetz als Reaktion auf die politischen Verfolgungen des NS-Regimes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ein sehr gutes Beispiel für eine kulturelle Prägung von Normativen). Aber die Entscheidung für die Geltung solcher Normative ist in der europäischen und der deutschen Gesellschaft erwachsen auf der Basis rationaler Überlegungen und hat nichts präexistierenden unverfügbaren oder gar ethnisch bestimmten Gegebenheiten zu tun.

Wiederum etwas ganz anderes ist es, wenn der Fundus einer Kultur als Möglichkeit dient, Integration zu bewerkstelligen. Laut Wikipedia bedeutet Integration unter anderem „die Ausbildung einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit einem Einbezug von Menschen, die aus den verschiedensten Gründen von dieser ausgeschlossen (exkludiert) und teilweise in Sondergemeinschaften zusammengefasst waren“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Integration_(Soziologie), abgerufen am 2.6.2017). Integration und Assimilation unterscheiden sich dadurch, dass bei Assimilation das Eigensein des Assimilierten verschwindet und sich das Eigensein dessen, in das hinein assimiliert wird, nicht, bzw. nicht wesentlich ändert, während Integration ein wechselseitiger Vorgang ist: Die Gemeinschaft, die integriert, ändert sich genauso wie die einzelnen Menschen oder die Gruppe von Menschen, die sich integrieren. Das Maß der Veränderung kann auf beiden Seiten durchaus unterschiedlich sein, aber auch dann, wenn es quantitativ gering ist, kann es qualitativ wesentlich sein. Mit Integration ändert sich natürlich auch die Identität der Gemeinschaft, die integriert – und auch, zumindest früher oder später, die Identität der Menschen, die in dieser Gemeinschaft leben.

Wie eben schon betont, obliegt es der Gemeinschaft, die sich offen für die Integration von anderen zeigt, die Regeln der Integration zu definieren und damit auch das Ausmaß der zu erwartenden Veränderungen zu limitieren – in Deutschland und Europa gibt es ja bereits ein ausgearbeitetes und geltendes Integrationsrecht, das auch kontinuierlich weiterentwickelt wird (und hier ist nicht der Ort darüber zu räsonnieren, ob dieses Integrationsrecht sinnvoll ausgestaltet ist). Die Art und Weise, wie dieses Integrationsrecht aussieht und wie es weiterentwickelt wird, orientiert sich an der Kultur der Gemeinschaft, die diese Regeln festschreibt – es ist geradezu ein sehr aussagekräftiger Ausdruck davon. Es ist also mehr die Frage nach der eigenen Kultur, der Sicherheit in und der Überzeugung von der eigenen Kultur, die im Vordergrund stehen sollte bei der Ausarbeitung von Regeln für die Integration als die Frage danach, wie die anderen denn sein sollten, bzw. wie sie sich entwickeln sollten im Zuge der Integration. Dies wiederum setzt voraus, dass zunächst eine Selbstvergewisserung in der eigenen Kultur und über die eigene Kultur stattgefunden hat (man könnte dies wiederum als Exploration der eigenen Weltanschauung beschreiben). Auf dieser Basis kann dann im Einklang mit der eigenen Kultur und deren Grundwerten die Integration von Fremden geregelt werden. Nebenbei bemerkt: Die Kultur Deutschlands und Europas scheint im Allgemeinen nicht derart schwach und unattraktiv zu sein, dass sie durch die Integration auch von mehreren Millionen Migranten sich bis zur Unkenntlichkeit verändern oder gar verschwinden würde. Ganz im Gegenteil: Wenn man in die Geschichte blickt, findet man viele Beispiele, in denen Migrationsbewegungen zu einer Belebung von europäischer und deutscher Kultur und fruchtbarer kultureller Weiterentwicklung geführt haben.

Soweit man es mit Integration wirklich ernst meint, tut man wohl einerseits gut daran, sich genauer mit dem Prozess der Integration selbst zu befassen: Was sind Bedingungen und Möglichkeiten, unter denen Integration aus der Perspektive der integrierenden Gruppe und aus der Perspektive der integrierten Gruppe gelingen kann? Es sei vermutet, dass auch bzgl. des Integrationsprozesses eine Unterscheidung in verschiedene Stufen analog zu den Stufen im Erziehungsprozess, die Kant genannt hat, sinnvoll ist: Alles fängt mit einer „Disziplinierung“ an – und die besteht nach einhelliger Meinung im Prozess der Integration von Zuwanderern darin, dass geltendes Recht zu akzeptieren ist. Bzgl. der dann bei Kant folgenden Stufen der Kultivierung, der Zivilisierung und der Moralisierung wird man sich wohl auch noch auf einen Konsens insoweit einigen können, dass von gelungener Integration dann gesprochen werden kann, wenn ein Bekenntnis zum Verfassungspatriotismus abgelegt ist – im deutschen Rechtssystem ist ein solcher Prozess im Verfahren zu einer Einbürgerung in Deutschland kodifiziert. Ob von staatlicher Seite darüber hinaus von Zuwanderen – oder auch von Deutschen – überhaupt mehr inhaltliche bestimmte Gesinnung und Identität gerechtfertigterweise verlangt werden kann, ob nicht jedes weitere Gesinnungspostulat der grundgesetztlich garantierten freien Entfaltungsmöglichkeit des je einzelnen Menschen widerspricht, erscheint wahrscheinlich. Im Sinne der in Deutschland geltenden freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist es zumindest nicht wünschenswert, wenn staatlicherseits ein wesentlicher Eingriff in die Persönlichkeitsentwicklung der Menschen vorgenommen wird – auch wenn er durch Staatsräson erforderlich zu sein vorgibt.

Mit der Forderung nach Leit- oder Rahmenkulturen ist dem Gelingen von Integrationsprozessen wohl wenig gedient, vielmehr kann die politische Unterstützung – wie Wolfgang Thierse schon in seiner Replik auf Jörg Schönbohm formulierte – nur darin bestehen, Integrationsangebote und eine vorausschauende Einwanderungspolitik zu betreiben. Integrationsangebote können freilich auch nicht in kultureller Leere schweben. Wie eine kulturelle Basis für gelingende Integration aussehen könnte (es sind sicherlich andere auch möglich – darüber zu diskutieren, wäre ein sinnvolles Unterfangen), zeigen die „15 Thesen zu kultureller Integration und Zusammenhalt“, die die „Initiative kulturelle Integration“ am 16.5.2017 in Berlin vorgestellt hat.

Integration von Fremdem und von Fremden stellte Gesellschaften schon immer vor große Herausforderungen. In unserer Zeit hat der Umgang mit Integration das Zeug dafür, Ausdruck des Gelingens oder Misslingens des abendländischen Gesellschaftsmodells und seiner Werte zu werden. Eine Diskussion über Leit- und/oder Rahmenkultur scheint zur Bewältigung der Aufgabe der Integration wenig beitragen zu können.