Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

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Aufklärung – was ist das eigentlich?

Philosophisches Café „Lust am Denken“ am 6.6.2015 im Heimathafen (Wiesbaden)

Referat von Christian Rabanus

Der Begriff „Aufklärung“ ist vieldeutig. Je nach Kontext kann mit „Aufklärung“ relativ Unterschiedliches gemeint sein. Hier sollen zwei Bedeutungen näher in den Fokus genommen werden, nämlich Aufklärung als Bezeichnung für eine geschichtliche Epoche und Aufklärung als Bezeichnung für eine Tätigkeit, die durch besondere Charakteristika ausgezeichnet ist.

Epochenbezeichnung

Als „Zeitalter der Aufklärung“ wird in der Regel das 17./18. Jahrhundert bezeichnet, bzw. genauer: Der Zeitraum zwischen etwa 1650 bis 1800. Diese Bezeichnung rührt daher, dass in dieser Zeit das, was dem Begriff der Aufklärung als einer Tätigkeitsbezeichnung gemeint ist, als wichtiges theoretisch-gesellschaftliches Thema behandelt wurde und es eine Vielzahl von Versuchen der Realisierung von Aufklärung im Sinne der Tätigkeit gab. Generell ist dieses Zeitalter dadurch geprägt, dass sich lange etablierte Vorstellungen und Traditionen in Politik, Wissenschaften, Kunst und Gesellschaft teils langsam aufzulösen beginnen, teils durch radikale Reformen oder Revolutionen hinweggefegt wurden. Zu nennen sind hier z.B.:

  • Politik: Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) endete 1648 mit dem Westfälischen Frieden. Dieser Krieg war einerseits ein Krieg der Habsburger Herrscher und des französischen Königtums um die Vorherrschaft in Europa, andererseits ein Krieg des katholisch-habsburgischen Kaisers und der mit ihm verbündeten katholischen Liga gegen die Protestantische Union. Im Westfälischen Frieden wurde eine Gleichberechtigung der Religionen, ein Ausgleich zwischen Kaiser und Ständen und eine Machtbalance zwischen Deutschland/Österreich und Frankreich vorgenommen. Damit wurden lange als gottgegeben angesehene Tatsachen wie z.B. die Exklusivstellung des Katholizismus oder des deutsch-österreichischen Kaisertums endgültig ad acta gelegt. Eine verhandelte Friedensordnung ersetzte in Europa eine gottgegebene.

  • Religion: Die deutsche Reformation (1517-1648) und die Abspaltung der anglizistischen von der römisch-katholischen Kirche (1531) sowie die sich daran anschließenden kriegerischen Auseinandersetzungen drängten immer mehr die Kirche und theologische Dogmen aus dem öffentlichen Leben heraus. Eine Säkularisierung der Gesellschaft setzte ein. Gottgegebene Regeln wurden zunehmend durch rational gefundene und ausgehandelte Regeln ersetzt.

  • Philosophie und Gesellschaft: Das einzelne, selbstverantworliche Individuum rückte immer mehr in den Mittelpunkt des Weltbildes, der Mensch als Geschöpf Gottes oder als Untertan verlor seine primäre Bedeutung. Entscheidend dafür waren Denker wie Immanuel Kant (1724-1804), Thomas Hobbes (1588-1679), John Locke (1632-1704) und Jean-Jacques Rousseau (1712-1778).

  • Naturwissenschaft: Nikolaus Kopernikus (1473-1543) veröffentlichte 1543 sein Hauptwerk De revolutionibus orbium coelestium (Über die Umschwünge der himmlischen Kreise), in dem er das geozentrische durch ein heliozentrisches Weltbild ersetzte. Die Theorie von Kopernikus wurde durch die Beobachtungen von Johannes Kepler (1571-1630) gestützt, der 1609 in seinem Buch Astronomia Nova seine ersten beiden Gesetze über die Bewegung der Himmelskörper veröffentlichte; diese Gesetze lauten wie folgt:

1. Keplersches Gesetz: Die Planeten bewegen sich auf elliptischen Bahnen, in deren einem gemeinsamen Brennpunkt die Sonne steht.

2. Keplersches Gesetz: Ein von der Sonne zum Planeten gezogener Fahrstrahl überstreicht in gleichen Zeiten gleich große Flächen.

3. Keplersches Gesetz: Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich wie die Kuben der großen Bahnhalbachsen (dieses Gesetz wurde erst 1618 „experimentell“ gefunden).

Schließlich entdeckte Isaak Newton (1642-1726) im 17. Jahrhundert das Gravitationsgesetzt und veröffentlichte es 1687 in seinem Hauptwerk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Aus dem Gravitationsgesetz konnte er die Keplerschen Gesetze ableiten, was eine endgültige Widerlegung des geozentrischen Weltbildes darstellte. Diese naturwissenschaftlichen Entdeckungen hatten enormen Einfluss nicht zuletzt auf die Stellung der Religion in der Gesellschaft und waren ein wichtiges Momentum für die Säkularisierung.

  • Gesellschaft: Im Jahr 1751 veröffentlichen Denis Diderot (1713-1784) und Jean Baptiste le Rond d‘Alembert (1717-1783) den ersten Band ihrer Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, in der das gesammelte Wissen der damaligen Welt allgemein und in der Landessprache (allgemeine Wissenschaftssprache zu dieser Zeit war Latein, welches aber nur von der intellektuellen und adeligen Oberschicht beherrscht wurde), also in Französisch, zusammen getragen wurde. Bis 1780 wurden 35 Bände mit insgesamt 70000 Artikeln veröffentlicht. Revolutionär war dieses Werk in mehrfacher Hinsicht: So war es an die „einfachen“ Leute gerichtet (und beinhaltete beispielsweise auch Artikel von Handwerkern – im 18. Jahrhundert war dies unerhört), war in der Landessprache Französisch (und nicht in der Wissenschaftssprache Latein abgefasst) und war gegen das auf Wissen gebaute Machtgefälle in der Gesellschaft gerichtet.

  • Industrie: 1769 patentiert James Watt (1736-1819) eine verbesserte Version der Dampfmaschine, die den Einsatz in der industriellen Fertigung aufgrund des nun deutlich erhöhten Wirkungsgrades ermöglichte. Im gleichen Jahr patentierte Richard Arkwright (1732-1792) eine automatische Spinnmachine, die sog. Waterframe-Spinnmaschine, mit der er die englische Texilindustrie revolutionierte. Diese beiden Erfindungen, die dann 1790 in dem Sinn zusammengeführt wurden, als in diesem Jahr erstmals Dampfmaschinen automatische Spinnmaschienen antrieben (zuvor waren sie mit Wasserkraft betrieben), waren wesentliche Elemente, die eine industrielle Fertigung von Produkten und damit die Abkehr von der bis dahin praktizierten manuellen Produktion in Manufakturen möglich machten.

Das Zusammenwirken aus politischen, religiösen, wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und industriellen Ereignissen ergab ein Umfeld, in dem sich der Mensch in seiner Stellung in Staat und Gesellschaft, der Kirche gegenüber und im Kosmos völlig neu definieren konnte und musste. Und dies geschah wesentlich durch die Tätigkeit der Aufklärung.

Bezeichnung für eine Tätigkeit

Das Zeitalter der Aufklärung hat diesen Namen, da die Theorie der Tätigkeit „Aufklärung“ in diesem Zeitalter entwickelt und entfaltet wurde.

Der Begriff „Aufklärung“ gehört in das Wortfeld des Gesichtssinnes. Aufklärung bedeutet, etwas klar zu machen, etwas zu erhellen. Im Englischen Wort „enlightenment“ oder im Französischen Wort „Lumières“ wird der Zusammenhing mit Licht und Helligkeit noch viel deutlicher. Beim Aufkommen dieses Begriffs zuerst im Englischen stand auch die Absetzung von dem oft mit den Begriffen den Dunkelheit und Finsternis verbundenen Mittelalter Pate.

Allerdings kommt im deutschen Wort „Aufklärung“ die aktivische Bedeutung der Aufklärung besser als in anderen Sprachen zum Ausdruck: Jemand klärt etwas auf – also aktiv. Erhellung z.B. hat passive Bedeutung: Etwas wird erhellt. Aufklärung ist also eine Aktivität, sie wird nicht einfach passiv erlitten und geschieht nicht einfach.

Aufklärung ist im Wesentlichen ein transitiver Akt, erfordert also ein Akkusativobjekt: „Ich kläre mich auf über etwas.“ oder „Ich kläre jemanden auf über etwas.“ oder „Ich werde über etwas aufgeklärt.“ Soweit der Begriff „Aufklärung“ ohne Akkusativobjekt verwendet wird, also z.B. „Ich kläre mich auf.“, steht dahinter ein Bedeutungskonstrukt, das ein Akkusativobjekt impliziert – wie z.B. in dem Sinne, in dem „Aufklärung“ als Thema im Schulunterricht auftaucht und genauer gesprochen „Aufklärung über menschliche Fortpflanzung und Sexualität“ meint.

Auch wenn in dem Begriff der Rekurs auf Rationalität nicht direkt enthalten ist, meint die moderne Rede von Aufklärung eine rationale, verstandesmäßig nachvollziehbare und intersubjektive Herangehensweise an etwas. Eine in diesem Sinne aufgeklärte Fortpflanzungslehre kommt ohne unbefleckte Empfängnis und Störche aus und intendiert für jedermann und jederfrau zu jeder Zeit akzeptabel und nachvollziehbar zu sein. In diesem Sinne hat auch Moses Mendelssohn (1729-1786), einer der Hauptexponenten der Aufklärung, davon gesprochen, dass sich Aufklärung auf vernünftige Erkenntnis und die Fertigkeit zum vernünftigen Nachdenken bezieht.

Eine der bekanntesten Erklärungen von Aufklärung, die ebenfalls auf dem rationalen Paradigma beruht, ist die von Immanuel Kant (1724-1804).

Kurze Einführung zu Immanuel Kant
  • Kant wurde in Königsberg geboren und ist auch dort gestorben. Er lebte immer direkt in Königsberg oder in der näheren Umgebung.

  • Er wuchs in einem kleinbürgerlichen, pietistisch geprägten Elternhaus auf, das ihm eine gute Bildung ermöglichte.

  • Kant studierte Philosophie, Mathematik, Naturwissenschaften in Königsberg.

  • 1746 unternahm er einen ersten Versuch, sein Studium mit einer Dissertation zu beenden, allerdings wurde sein Entwurf abgelehnt. Im Anschluss daran arbeitete er bis 1754 als Hauslehrer.

  • 1755 habilitierte er sich an der Königsberger Universität und wurde dort Dozent. Es dauerte noch bis 1770, bis er dort ordentlicher Professor wurde.

  • 1781 erschien seine Kritik der reinen Vernunft: Diese revolutionäre Schrift, die die Gültigkeit von Erkenntnis und Wissenschaft auf das transzendentale Ich aufbaut, gilt als das Hauptwerk Kants. Es markiert den Beginn der sogenannten „kritischen Phase“ in Kants Schaffen. Aufgrund des in ihm vertretenen Gedankenguts war der Konflikt mit der Kirche vorprogrammiert.

  • 1784 veröffentlichte Kant den Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in der er den preußischen König Friedrich des Großen als ein Musterbeispiel eines aufgeklärten Herrschers lobt.

  • Seit ca. 1790 gerät Kant zunehmend in Konflikt mit der unter Friedrich Wilhelm II, dem Nachfolger von Friedrich dem Großen, wieder verschärften Zensur. Kant bekommt bzgl. Religionssachen Lehrverbot.

  • Kant ist einer der wichtigsten und bekanntesten abendländischen Philosophen und Wegbereiter der Neuzeit.

Aufklärung nach Kant

Gleich zu Beginn des Aufsatzes über Aufklärung findet sich Kants berühmte Definition von Aufklärung:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen des Menschen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist dies Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, 1784, 2)

Die einzelnen Aspekte dieser Definition sollen im Folgenden etwas näher erläutert werden.

Mündigkeit

Mündigkeit bedeutet die Nutzung des eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen. Das wiederum bedeutet: Mündigkeit besteht darin, sich eigene Urteile zu bilden und damit die im Menschen als Möglichkeit angelegte Autonomie zu verwirklichen. Damit verbunden ist dann freilich auch, die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.

Selbstverschuldet

Kant ist davon überzeugt, dass der Mensch grundsätzlich mit Verstand ausgestattet ist. Unter Verstand versteht Kant der Vermögen, sich Urteile zu bilden und einen gegebenen Sachverhalt zu analysieren. Damit der Verstand über das, was dem Bereich der Erfahrung entstammt, urteilen kann, muss er erst Erfahrungen gemacht haben, was das Vermögen der Sinnlichkeit voraussetzt: Sinnlichkeit bedeutet das Vermögen der Rezeptivität. Nur im Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand ist Erfahrung möglich:

„Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B75/A48)

Eine Schulung der Sinnlichkeit ist deshalb genauso wichtig wie Schulung des Verstandes. Im Sinne Kants muss man daher auch sagen, dass zu Aufklärung und zu Mündigkeit auch der Mut dazu gehört, sich seiner eigenen Anschauung ohne Leitung eines anderen zu bedienen, bzw. auf die eigene Anschauung wirklich auch zu vertrauen; das hört sich trivial an, aber Experimente wie z.B. das 1951 beschriebene Konformitätsexperiment von Solomon Asch (1907-1996) zeigen, dass solches nicht immer ganz trivial ist.

Wenn Kant also davon ausgeht, dass die Unmündigkeit des Menschen in der Regel selbstverschuldet ist, dass sie also in der Regel nicht auf mangelnde Geistesfähigkeiten zurück zu führen ist, spricht er also auch dem nicht aufgeklärten Menschen schon Verantwortlichkeit zu. D.h.: Unaufgeklärtheit schützt vor Verantwortlichkeit nicht. Oder anders gesagt: Wegschauen oder den Kopf in den Sand stecken ist eine untaugliche Entschuldigung.

Aufklärung und Handlung

In Kants Aufklärungsaufsatz wird die Frage des aufgeklärten Handelns wenig beleuchtet. Seine Beispiele für aufgeklärtes Handeln beziehen sich auf einen Gelehrten, der – soweit er öffentlich als Gelehrter auftritt, also öffentlichen Gebrauch seiner Vernunft macht – alle Freiheit des Denkens und Sprechens haben sollte; dieses war in Kants Zeit alles andere als selbstverständlich und bei Kant ist mit dieser Aussage auch eine Forderung, bzw. Ansage an die Herrschenden verbunden. Kant konnte diese Forderung wohl auch nur deshalb veröffentlichen, weil er unter der Herrschaft von Friedrich dem Großen lebte und wirkte, der als Vertreter des aufgeklärten Absolutismus dem Denken und Forschen weitgehend freie Hand ließ. Zu anderen Zeiten und unter anderen Umständen – die ja auch Kant dann unter Friedrichs Nachfolger Friedrich Wilhelm II. erlebte und mit denen die Menschen ja auch heutzutage in vielen Ländern der Erde konfrontiert sind (wobei diese Länder gar nicht mal nur in fern abgelegenen Teilen der Erde liegen müssen: man denke etwa an die Türkei unter der Regierung Erdogan oder Russland unter der Regierung Putin), wäre allein diese Forderung schon gefährlich gewesen. Gleichzeitig schränkte auch Kant das Recht auf den freien Gebrauch der Vernunft eben auf den öffentlichen Gebrauch ein. Im privaten Gebrauch, in dem der Mensch als Bürger, als Untertan fungiert, vertrat er zumindest nicht der Meinung, dass Freiheit des Denkens und vor allem des Handelns bestehe, bzw. bestehen könne. Im Blick auf die Regierung Friedrichs des Großen, die Kant sicherlich – ob wissentlich oder unwissentlich, bleibe dahin gestellt – idealisierte, schrieb er:

„Aber auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht vor Schatten fürchtet, zugleich aber ein wohldiszipliniertes zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat [Kant bezieht sich hier auf Friedrich den Großen, CR], – kann das sagen, was ein Freistaat nicht wagen darf: räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!“ (Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, 1784, 2)

Im Grunde nimmt Kant mit seiner Unterscheidung des öffentlichen und privaten Gebrauchs der Vernunft ein Grundprinzip unserer heutigen demokratischen Verfassung vorweg: Soweit Gesetze gelten, muss sich jeder an sie halten (solange man das Problem des manchmal nötigen zivilen Ungehorsams einmal außen vor lässt), aber am Prozess der Veränderung der geltenden Gesetze kann sich jeder beteiligen – ja mehr noch: Jedes Mitglied unserer Gesellschaft ist bekanntlich dazu aufgerufen, sein Recht auf Partizipation wahrzunehmen und eigene Gedanken und Vorstellungen einzubringen.

Mit Kant kann man wohl sagen, dass Aufklärung im Sinne von Selbstdenken und geistiger Autonomie die Voraussetzung für ein verantwortliches Leben in der Welt ist. Kants Grundregel für menschliches Verhalten, der kategorische Imperativ, stellt eine formale Regel dar, die ohne intellektuelle Erfassung der Handlungssituation nicht befolgt werden kann. So formuliert Kant z.B. in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die im Jahr 1785 erschien:

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Immanuel Kant: Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff (AA), Band IV, 421)

Eine Maxime ist nach Kant ein Grundsatz für Handlungen – und diese Maximen sollen nach Kant derart gestaltet sein, dass man sie als allgemeines Gesetz wollen kann. Bei aller Fraglichkeit der Möglichkeit zur Umsetzung dieses Prinzips: Ohne eigene Urteilsfähigkeit kann ein Leben nach dem kategorischen Imperativ nicht geführt werden. In diesem Sinne ist Aufklärung eine notwendige Bedingung für ein gutes Leben.

Motivation zur Aufklärung

Es erfordert nach Kant Mut und Entschlusskraft, sich aufgeklärt zu verhalten. Warum ist Mut erforderlich? Mit aufgeklärtem und also selbstbestimmten Verhalten sind eine Reihe von oft als negativ empfundenen Konsequenzen verbunden:

  • Weniger oder keine Entschuldigungsmöglichkeiten, wenn etwas schief geht: Wer eigenverantwortlich und aufgeklärt handelt, kann und wird zur Verantwortung gezogen werden.

  • Gefahr anzuecken, ein Durchlavieren ist gar nicht mehr oder nicht mehr leicht möglich.

  • Gefahr für Leib und Leben – wobei das natürlich abhängig vom gesellschaftlichen Umfeld ist; ein aufgeklärtes Verhalten bedeutet in der westlichen Zivilisation in zum Glück keine Gefahr für Leib und Leben, wohl aber kann es durchaus negative Konsequenzen haben (vgl. die anderen Punkte hier).

  • Anstrengung: Sich selbst ein Urteil zu bilden, sich mit einer Materie zu befassen, um sich überhaupt erst ein Urteil bilden zu können, ist anstrengend, kostet Zeit und ggfs. auch materielle Ressourcen. Ggfs. muss man sich aufwändig erklären, bekommt Rückfragen und muss sich mit anderen Argumenten auseinander setzen. Man selbst mit seinem Standpunkt wird angreifbar weil sichtbar (vgl. Sybille Berg: Vorauseilende Feigheit. SPON 30.5.2015).

Vor allem auf letzteres weist auch Kant hin:

„Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ (Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, 1784, 2)

Was also könnte eine Motivation sein, sich um Aufklärung zu bemühen? Bei Kant erfährt man in dem berühmten Aufsatz dazu wenig, auch in seinem sonstigen Werk finden sich kaum Hinweise darauf, was die Motivation sein könnte, sich aus der Unmündigkeit zu verabschieden.

In der Geschichte der Menschheit wie in der Geschichte jedes einzelnen Menschen lassen sich aber immer wieder Ereignisse finden, die als Initialzündung für Aufklärung gewirkt haben: Das sind normalerweise Erlebnisse des Scheiterns, Erlebnisse der Erschütterung und der Verunsicherung. Die oben genannten Ereignisse beispielsweise stellen jedes für sich ein solches Erlebnis dar. Im Leben eines einzelnen Menschen gibt es vergleichbare Ereignisse: Ein geliebter Mensch stirbt oder wendet sich ab, ein Projekt, in das man viel Energie gesteckt hat, scheitert, ein Lebenstraum platzt, etc. Solche Ereignisse können zu Resignation und Stagnation führen, sie können aber auch je persönlich Anlass für Wachstum, für Neuorientierung, überhaupt für Orientierung im Leben sein – mit anderen Worten: Anlass sein, Aufklärung zuzulassen und sich aktiv um weitere Aufklärung zu bemühen. Die Existenzphilosophen haben sich intensiv mit den Phänomenen des Scheiterns und der Bedeutung des Scheiterns für das menschliche Leben und die menschliche Weiterentwicklung auseinander gesetzt – freilich nicht alle im Sinne der Aufklärung.

Kant selbst schwebte wohl so etwas wie eine ideale Menschheit vor, die die in ihr angelegten vernünftigen Möglichkeiten möglichst vollständig verwirklicht.

Möglichkeit zur Aufklärung – Bedeutung von Lehrern, Mentoren, etc.

Neben der Frage nach der Motivation für die Aufklärung, also neben der Frage danach, warum jemand das tendenziell unbequeme aufgeklärte Leben dem bequemen Leben unter fremder Führung vorziehen sollte, stellt sich auch die Frage danach, wie Aufklärung überhaupt begonnen werden und gelingen kann. Kant sieht dieses Problem sehr wohl:

„Es ist also für jeden Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen, und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzung und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln, und dennoch einen sicheren Gang zu tun.“ (Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, 1784, 2)

Damit benennt Kant das alte Problem, das auch schon der platonische Sokrates in seinem Höhlengleichnis beschrieben hat: Dort sitzen ja die – mit Kant muss man nun sagen: unaufgeklärten – Menschen in einer Höhle, an Armen und Beinen gefesselt, so dass sie sich nicht bewegen können, und führen Wettbewerbe durch, wer die Schatten an der Wand, die durch ein im Hintergrund flackerndes Feuer geworfen werden, am Besten deuten kann. Diese platonischen Höhlenmenschen führen aus ihrer Perspektive heraus ein glückliches und zufriedenes Leben – das von außen betrachtet nur als armselig und bemitleidenswert bezeichnet werden kann. Im Höhlengleichnis wird dann erwogen, was wohl passieren würde, wenn man einen solchen Höhlenmenschen von seinen Fesseln befreien würde: Er würde sich wohl erst wehren, die ungewohnten Bewegungen würden ihm Schmerzen verursachen, der steinige Weg heraus aus der Höhle wäre eine Tortur und das Tageslicht an der Erdoberfläche würde blenden und den Augen Schmerzen bereiten. Insgesamt stellt diese Befreiung also auf den ersten Blick keine erfreuliche Aussicht dar.

Platon spinnt dann weiter aus, wie es dem befreiten Höhlenmenschen wohl ergehen würde, wenn er – gesetzt den Fall, er übersteht all die Torturen der Befreiung, und gewöhnt sich an das Leben in der Sonne auf der Eroberfläche – wieder in die Höhle zurück gehen würde und den dort verbliebenen Menschen von seinen Erlebnissen berichten würde: Sie würden ihm im besten Fall nicht glauben, ihn im schlimmsten Fall als Lügner, Volksverhetzer oder Gefahr für die Gesellschaft einsperren oder umbringen. Sein Beispiel wäre nicht dazu angetan, den Akt der Befreiung aus der Höhle als verheißungsvoll erscheinen zu lassen. Auch Kant sieht in seinem Aufsatz diese Gefahr: Wenn die ersten Schritte in einem aufgeklärten Leben misslingen, würde das die Motivation, sich weiter um Aufklärung zu bemühen, nicht steigern.

Aber zurück zur aktuellen Frage: Wie kann denn Aufklärung überhaupt beginnen? Kant nennt in seinem Aufsatz einen Weg, nämlich den, den man als konkreativen Weg bezeichnen könnte. Kant schreibt:

„Dass aber ein Publikum sich selbst aufläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende […] finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen, selbst zu denken, um sich verbreiten werden.“ (Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, 1784, 2)

Kants Überzeugung ist es, dass sich Aufklärung selbständig verbreitet, wenn sie einmal in der Gesellschaft Fuss gefasst hat. Wenn einmal die Idee der Aufklärung im wahren Sinne des Wortes unter das Volk gebracht ist, befruchten sich die einzelnen Individuen gegenseitig, wobei es immer wieder einzelne als Vorreiter der Selbstaufklärung geben wird, und andere, die mehr als Mitläufer fungieren. Insgesamt ereignet sich ein Akt der Konkreativität, d.h.: Als eine Gruppe, als eine Gemeinschaft wird etwas erreicht – nämlich Aufklärung –, das der einzelne so nicht erreicht hätte.

Die Alternative zu einer konkreativen Aufklärung besteht in einer guten Pädagogik, also einer Erziehung zur Selbständigkeit und Mündigkeit hin. Aber auch das ist nicht einfach. Das Grundproblem benennt Kant in seinen Vorlesungen zur Pädagogik, die er Ende der 1770er-Jahre gehalten hat und die 1803 von seinem Schüler Friedrich Theodor Rink herausgegeben wurden:

„Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ (Vorl. 33)

D.h.: Erziehung bedarf immer wieder auch disziplinierender Maßnahmen. Aber wie kann Erziehung derart stattfinden, dass trotz aller Fremdbestimmung bei der Disziplinierung diese Fremdbestimmung gerade nicht als Vorbild genommen wird, sondern der Mensch zum Bewusstsein der eigenen Freiheit geführt wird?

Kant – wie ja auch die Generationen Erziehungswissenschaftler nach ihm – hat auf diese Frage letztlich keine befriedigende Antwort. Zumindest ein Teil seiner Antwort besteht aber darin, dass er den Erziehern einerseits Zurückhaltung bei der Disziplinierung nahe legt – unter Disziplinierung versteht Kant in dem Sinne einen „negativen“ Teil der Erziehung, als dieser nur Schaden vom Edukanten selbst und seiner Umwelt abhalten soll, von Disziplierung im Sinne von Drill hält Kant gar nichts –, andererseits soll von Beginn an der Edukant als Mensch in seiner Entwicklung ernst genommen werden. Er soll also seinem Alter und seinen geistigen Fähigkeiten entsprechend immer weniger Disziplinierung erfahren und immer mehr durch Unterweisung und Vorbild Einsicht in die Möglichkeit eines selbstbestimmten und aufgeklärten Lebens erhalten. Kant schreibt in einer Vorlesungsankündigung im Jahr 1765 über den Sinn der Erziehung:

„Kurz, er soll nicht Gedanken, sondern denken lernen; man soll ihn nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, dass er in Zukunft von sich selbst zu gehen geschickt sein soll.“

Möglichkeit der Abgeschlossenheit der Aufklärung

Aufklärung ist eine immer währende Aufgabe, die niemals abgeschlossen ist und auf jeden Menschen immer wieder zukommt. Zwar ist ein Rückfall in ein voraufgeklärtes, naiv dahinlebendes Dasein unmöglich, wenn einmal die Fesseln der Unmündigkeit abgeschüttelt wurden – der platonische Höhlenmensch wird nach einer Rückkehr in die Höhle nie wieder den Glauben an die dort vorgefundene Wirklichkeit in aller Unfraglichkeit zurück erlangen können, wenn er einmal an der Oberfläche der Welt gewesen ist –, aber das aufgeklärte, selbstverantwortliche, mündige Handeln ist jedes mal erneut eine Herausforderung. Der grundsätzlich aufgeklärte Mensch ist dessen fähig, aber vielleicht zu faul oder zu feige dazu. Der voraufgeklärte Mensch ist zu aufgeklärtem Verhalten noch nicht in der Lage.

Daraus ergibt sich mit Kant eine zweifach Aufgabe:

  • Individuell: Jeder Mensch muss zumindest sich selbst über die Gründe und Konsequenzen seines Handelns und Nicht-Handelns Rechenschaft ablegen. Ob es auch eine überindividuelle Institution gibt, der die Menschen rechenschaftspflichtig wären, bleibe hier dahin gestellt (solche Institutionen könnten z.B. sein: die Gesellschaft, die kommenden Generationen, die Armen und Schwachen, Gott, etc.).

  • Gesellschaftlich: Jeder Mensch muss dazu beitragen, dass die Gesellschaft derart verfasst wird oder bleibt (in unserer Gesellschaft geht es um das „bleiben“), dass ein aufgeklärtes Dasein prinzipiell möglich ist und dass insbesondere nachfolgende Generationen in einer Gesellschaft aufwachsen, in der ein Leben in Freiheit und Selbstverantwortung möglich ist.

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